Anne Röthel im Porträt
„In der Rechtswissenschaft ist nach wie vor Strategie gefragt!“
Prof. Dr. Anne Röthel, Professorin an der Bucerius Law School, über ihre Erfahrungen als Frau in der Wissenschaft, die Wahl des Forschungsschwerpunkts und die Unterstützung, die sie aus ihrem privaten Umfeld bekam.
Liebe Frau Röthel, die meisten Jurist:innen entscheiden sich für eine Karriere in der Praxis. Warum haben Sie den Weg in die Wissenschaft gewählt?
Das intellektuelle, akademische Leben war schon lange ein Traum von mir, bevor ich mit dem Jurastudium begonnen habe. Zu Schulzeiten habe ich mir heimlich gewünscht, mein Leben mit schreiben zu verbringen. Zum Jurastudium bin ich erst über Umwege gekommen, und es hat sich noch lange wie ein Kompromiss angefühlt für jemanden, der eigentlich als Journalistin, Philosophin oder Schriftstellerin leben wollte. Der Weg in die Wissenschaft war dann ehrlich gesagt keine bewusste Entscheidung, sondern ein Weg, der sich glücklicherweise Stück für Stück eröffnete. Dabei waren noch lange Fremdheitsgefühle dabei. Erst in den letzten Jahren ist kein Rest von diesem Quereinsteiger-Gefühl mehr da.
Ihr Forschungsschwerpunkt liegt unter anderem im Familienrecht. Was fasziniert Sie besonders an diesem Rechtsgebiet?
Ein Teil hat gar nicht so sehr mit Faszination zu tun, sondern mit gefühlter Notwendigkeit, dieses existentiell wichtige, politisch sensible und dogmatisch häufig als randständig behandelte Fach nicht einem rechtswissenschaftlichen Mainstream zu überlassen. Aber es gibt tatsächlich auch eine besondere Faszination: Denn das Familienrecht ist ein Bereich der Rechtsordnung, in dem das Recht mit seinen eigentümlichen Formen der Kommunikation ("Rechte haben") und Konfliktlösung besonders sichtbar an Leistungsgrenzen stößt. Und das Familienrecht führt plastisch vor Augen, dass das Recht von Voraussetzungen lebt – Vertrauen, Liebe, Sorge, der Wunsch nach Partnerschaft und familiärem Leben, … – die es selbst nicht schaffen kann.
Ihr Forschungsschwerpunkt hat sich, nachdem Sie Inhaberin Ihres Lehrstuhls wurden, in Richtung des Familienrechts entwickelt. Wie kam es dazu?
Für das Familienrecht habe ich mich schon während der Habilitationsphase interessiert, und ich wusste, dass ich – sobald ich wissenschaftlich „angekommen“ wäre – gerne einen Schwerpunkt auf das Familienrecht legen würde. Aber mir war zugleich klar, dass man als Frau mit dezidiert familienrechtlichem Fokus auf eine Art "gelabelt" ist, die ich für mich nicht wollte („Karrierekiller“). Daher habe ich versucht, mir ein Oeuvre zusammen zu stellen, dass mehr von Methodenfragen und vom Wirtschafts- und Technikrecht, von Umweltnormen und Europarecht handelte. Und als ich dann den Lehrstuhl hatte, fühlte ich mich frei darin, nun über das nachzudenken, was ich für interessant hielt.
Ich glaube, dass sich daran bis heute wenig geändert hat und dass es in der Rechtswissenschaft unausgesprochene interne Hierarchien gibt über „relevante“ und weniger relevante Fächer, über „schwierige“, also dogmatische, und bloß „politische“ Fragen. Hier ist nach wie vor Strategie gefragt!
Gerade in der Wissenschaft sind Frauen noch deutlich unterrepräsentiert. Wie wirkt sich dies auf das Arbeitsumfeld aus? Ergibt sich dadurch ein besonderer Zusammenhalt von Frauen in diesem Bereich?
Ja, wir sind nach wie vor wenige, aber wir werden mehr. Ich empfinde Gremien, Podien und andere Gesprächsrunden, in denen wir mehr sind, nach wie vor als angenehmer. Ich mag es, wie Frauen kommunizieren und Entscheidungen treffen, und es sind nur wenige Männer, mit denen ich so offen und vertraut wissenschaftlich zusammenarbeite wie mit meinen weiblichen wissenschaftlichen Freundinnen. Aber das heißt natürlich nicht, dass es nicht auch unter den Kolleginnen Personen gibt, die mich befremden und mit denen ich die Zusammenarbeit als schwierig empfinde. Aber grundsätzlich würde ich sagen: Ja, es gibt einen besonderen Zusammenhalt von Frauen.
Wie müssten sich Arbeitsumfeld und Ausbildung ändern, um hier einen Wandel herbeizuführen?
Ich glaube, es werden sich umso mehr Frauen den Weg in die Wissenschaft zutrauen, je mehr Sicherheit es ab einem bestimmten Punkt gibt, dass die Karriere nicht einfach nach langen Jahren als Assistentin oder als Privatdozentin endet. Und natürlich hängt vieles davon ab, dass wissenschaftliche Begabungen entdeckt und gefördert werden. Wenn es richtig ist, dass man Personen, die einem ähnlich sind, auch ähnlich viel zutraut, so erhöht sich mit jeder Professorin, die berufen wird, die Chance darauf, dass weitere Frauen in die Wissenschaft gehen und dort erfolgreich wirken können.
Während Ihrer Ausbildung und Ihrer Karriere waren Sie immer eine von wenigen Frauen. Wie gehen Sie mit dieser Rolle als Vorreiterin um?
Vorab: Ich habe mich nie als Vorreiterin empfunden – für mich war es so, wie es war. Und ich hatte zu Beginn meiner Professorinnenzeit wahrscheinlich auch Sorge, allzu sehr auf mein Frau-Sein reduziert zu werden und habe daher wohl auch den Faktor „Frau“ eher heruntergespielt. Heute kann ich damit anders umgehen, kann offensiv auf Frauen zugehen, um sie zu ermutigen, und offensiv auf Männer zugehen, wenn ich Verhalten unangemessen finde – in der Hoffnung, dass beides dazu beiträgt, die Wissenschaft zu einem Ort zu machen, an dem sich Frauen wohlfühlen und entfalten können.
Sie haben mal davon gesprochen, dass es Momente in Ihrer Karriere gab, in denen Sie aufgrund Ihres Geschlechts zunächst nicht für eine Rechtswissenschaftlerin gehalten wurden. Was waren diese Momente?
Was mir in den ersten Jahren immer wieder passiert ist, ist, dass ich auf größeren Tagungen vornehmlich von älteren Herren für Service-Personal gehalten wurde und wahlweise Kaffee holen oder einen Mantel wegbringen sollte. Ich war jeweils so perplex, dass ich das dann einfach gemacht habe. Aber ich habe es als Verletzung empfunden, die immer noch wach gerufen werden kann. Zuletzt ist mir eine solche Zurücksetzung auf einer Tagung in Japan begegnet, wo ich eine Diskussionsleitung übernehmen sollte. Als ich mich zum Podium begeben wollte, wo auch die anderen Diskussionsleiter in den vorangehenden Diskussionen platziert waren, wurde ich darauf hingewiesen, dass mein Platz unten, an der Seite wäre. Oben säße nur der Referent, ein Schüler eines „wichtigen“ Platzhirsches. Das ist nur wenige Jahre her, und ich bin noch heute unglücklich darüber, dass ich nur zu höflichem Gehorsam in der Lage war. Das sind Situationen, wo ich meine Erziehung verfluche.
Sie sind verheiratet und leben mit Ihrem Mann in Hamburg, unterrichten aber regelmäßig auch für längere Zeiträume an der Panthéon-Assas in Paris. Ist das ohne Weiteres mit Ihrem Privatleben vereinbar?
Ja, und das ist ein großes Glück. Mein Mann hat mich kennen gelernt, als ich in der Endphase der Habilitation war, und er wusste, was er tat, als wir geheiratet haben. Er hat das Folgende nicht nur „mitgemacht“, also den Umzug nach Hamburg und viele längere Auslandsaufenthalte, sondern er ist mein „Kraftverstärker“, mein „Mutmacher“ und der erste, der sich aufregt, wenn er findet, dass ich mich – wie viele Frauen – zu klein mache.
Können Sie einen bestimmten Moment oder Faktor nennen, der Ihren Werdegang maßgeblich beeinflusst hat?
In meiner Familie gab es kein wissenschaftliches Vorbild und auch keine Jurist:innen. Ohne institutionelle Rückendeckungen wäre mein Weg anders verlaufen. Auf einer Sommerakademie der Studienstiftung entstand der Kontakt zu einem von der DFG geförderten Graduiertenkolleg, und damit nahm das Wissenschaftliche allmählich seinen Lauf.
Wenn Sie heute Ihren Ausbildungs- und Karriereweg noch mal beginnen würden, gäbe es etwas, das Sie anders machen würden?
Im Nachhinein denke ich, dass ich bei der Entscheidung, wo und bei wem ich promoviere und habilitiere, die Wahl gehabt hätte und dass ich mir auch Betreuer hätte aussuchen können, die besser zu mir gepasst hätten. Aber mein Gefühl ist, dass die jüngeren Wissenschaftlerinnen die Frage nach der Betreuungsperson heute – glücklicherweise – viel (selbst-)bewusster treffen.
Welche Juristin hat Sie so inspiriert, dass sie als Vorbild für breaking.through nominiert werden sollte? Wieso?
Frau Lore Maria Peschel-Gutzeit hätte ich mit viel Verve vorgeschlagen für ihre geradezu revolutionären diagnostischen Fähigkeiten über Fehlentwicklungen im (Familien-)Recht, für ihren politischen Gestaltungswillen, für ihren Lebensweg und für die Integrität und Authentizität ihrer Person. Aber auf diese Idee sind ja schon andere vor mir gekommen.
Vielen Dank für das spannende Interview!
Hamburg, 30. September 2021. Prof. Dr. Anne Röthel hat die Fragen schriftlich beantwortet. Die Fragen stellte Anna Isfort.
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