Prof. Dr. Anuscheh Farahat im Porträt
"Lassen Sie sich nicht von Durststrecken verunsichern."
Prof. Dr. Anuscheh Farahat, LL.M., Professorin an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, über die rechtlichen Rahmenbedingungen der Teilhabe und Integration von Migrant*innen, Bumerang-Effekte im Peer-Coaching und die Voraussetzungen erfolgreicher Frauennetzwerke.
Prof. Dr. Farahat, Sie sind seit Anfang 2019 Professorin für Öffentliches Recht, Migrationsrecht und Menschenrechte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Was hat Sie zu Ihrer Karriere in der Wissenschaft motiviert?
Dafür waren gleich mehrere Faktoren ausschlaggebend. Schon im Studium habe ich gemerkt, dass mich nicht nur die Lösung konkreter Rechtsfragen interessiert, sondern vor allem die Hintergründe des Rechts. In den Seminaren, die ich besucht habe, ging es oft darum, welche Rolle die Gesellschaft für das Recht spielt und ob man mit Recht gesellschaftliche Entwicklung steuern kann. Mich hat auch die Frage interessiert, wann Herrschaft legitim ist, wie Recht der Ausübung von Macht dienen kann, aber auch, wie man mit Recht illegitime Machtausübung kritisieren kann. Mit diesen Fragen wollte ich mich intensiver beschäftigen. Außerdem hatten einige Freunde von mir bereits promoviert; deren Vorbildfunktion spielte sicher auch eine Rolle. Und ein glücklicher Zufall kam hinzu: Ich hatte schon im Studium von meinem späteren Doktorvater ein Angebot bekommen, bei ihm zu promovieren. Das hat mich motiviert und das wollte ich mir nicht entgehen lassen.
Ihre Dissertation zum Thema progressive Inklusion im Bereich des Migrationsrechts wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Herman-Mosler-Preis 2015 der Deutschen Gesellschaft für Internationales Recht. Im Verfassungsblog veröffentlichen Sie zudem regelmäßig zu aktuellen Themen aus dem Europa- und Völkerrecht. Wie haben Sie Ihre Forschungsschwerpunkte gewählt?
Zu meinem Dissertationsthema bin ich auch eher zufällig gekommen, wobei mich die Frage schon immer interessiert hat, wie das Recht mit gesellschaftlichen Minderheiten umgeht. Nach meinem Examen bin ich zunächst ans MPI für Völkerrecht in Heidelberg gegangen. Eine meiner ersten Aufgaben war es, mich im Rahmen eines Institutsprojekts mit dem OSZE-Hochkommissar für Minderheitenrechte zu beschäftigen. Dabei fiel mir auf, dass wir in Deutschland gar nicht so viele Minderheiten haben, aber Personen mit Migrationshintergrund zum Teil ähnliche Probleme haben. Gemeinsam mit Kolleg*innen, die zu ähnlichen Themen gearbeitet haben, hat sich dann eine kleine Gruppe aus Forscher*innen in dem Bereich gebildet, die sich gegenseitig verstärkt haben. Meine Beobachtungen haben mich dann zu der Frage geführt, wie das Recht eigentlich auf die Situation transnationaler Migrant*innen reagiert, also solcher Personen, die dauerhaft hin und her wandern und sich dauerhaft mehreren Staaten zugehörig fühlen. Diese Frage ist ja vor allem deshalb spannend, weil das Recht sonst ja eher von Einordnungen auf eindeutige Situationen lebt.
Meine weiteren Schwerpunkte waren aus der Beschäftigung mit Migrationsrecht und Menschenrechten heraus naheliegend. Wer sich viel mit diesen beschäftigt, stellt schnell fest, dass die gestellten Fragen eine institutionelle Komponente haben, nämlich wer entscheidet eigentlich über Exklusion und Inklusion, soziale Teilhabe und die Gewähr von Menschenrechten. Gerade der Umgang des Rechts mit sozialer Ungleichheit hat mich interessiert, weil der soziale Status oft auch über den Zugang zum Recht und zur Partizipation entscheidet. In meiner Habilitation und meinem Forschungsprojekt habe ich mich daher mit der Frage beschäftigt, wie Gerichte mit Solidaritätskonflikten umgehen – sind Gerichte geeignete Orte, solche Konflikte zu entscheiden und welche Möglichkeiten hat das Verfassungsrecht, solche Konflikte so zu steuern, dass sie gesellschaftliche Spaltung nicht vorantreiben, sondern konstruktive Entscheidungen erlauben?
Was braucht es Ihrer Ansicht nach, um mehr Teilhabe und Zugehörigkeit von Migrant*innen zu erzielen? Sehen Sie dabei insbesondere den Staat oder die Gesellschaft als Ganzes in der Pflicht?
Wohl beides. Wir haben eine Tendenz, diese Frage immer noch stark an die zuwandernden Individuen auszulagern, d.h. den Migrant*innen aufzuerlegen, etwas zu tun, um sich hier einzugliedern. Klar trifft das ein Stück weit zu, aber wir haben noch nicht ganz verstanden, dass viele der strukturellen Probleme unserer Gesellschaft Migrant*innen in besonderem Maße treffen. Z.B. besetzen wir Behörden, Ämter und politische Ämter oft so, dass wir gerade an diesen Schlüsselstellen keine Identifikationsfiguren anbieten. Die strukturelle Natur solcher Hindernisse zeigt sich insbesondere darin, dass der Zugang zu Positionen oder der Aufstieg im Allgemeinen in Deutschland immer noch sehr schwierig ist, wenn man nicht der Bildungsschicht angehört. Das trifft keinesfalls nur Migrant*innen, aber sie sind natürlich besonders davon betroffen, weil Migrant*innen es eben auch im Bildungssystem oft schwerer haben, u.a. aufgrund unzureichender Sprachförderung. Ein gute Integrationspolitik ist meines Erachtens daher immer auch eine gute Sozialpolitik und auf den Abbau von Barrieren gerichtet. Dadurch kommt sie der Gesellschaft insgesamt zugute.
Sie sind Leiterin der Emmy-Noether-Forschungsgruppe (DFG) „Transnationale Solidaritätskonflikte: Verfassungsgerichte als Foren und Akteure der Konfliktbearbeitung“. Was versteht man unter transnationalen Solidaritätskonflikten und welche Rolle kommt Verfassungs- und Höchstgerichten dabei zu?
Der Fokus des Forschungsprojekts liegt klar auf den sozialen Problemen bzw. Konflikten, die durch die Eurokrise entstanden sind. Das heißt, es geht vor allem um Konflikte, die aus der Austeritätspolitik in den südlichen EU-Länder entstanden sind, also dem massiven Sparkurs in der öffentlichen Daseinsvorsorge. Diese Politik, die vor allem die Gläubigerländer verlangt haben, hat natürlich auch Folgen für die Realisierung von Menschenrechten, angefangen vom Recht auf faire Bezahlung bis zum Recht auf Gesundheit. Letzteres kann man ja gerade in der Corona-Krise in besonders schockierender Weise sehen.
Wir fragen in unserem Projekt aber auch, ob die Zahlungen an die südlichen EU-Länder oder die Idee gemeinsamer europäischer Schulden, Verfassungsfragen in den Ländern des europäischen Nordens aufwirft, z.B. im Hinblick auf die demokratische Haushaltshoheit. Man kann diese Fragen unter dem Begriff der transnationalen Solidaritätskonflikte bündeln, da hier Verteilungsfragen über nationale Grenzen hinweg thematisiert werden. Vor allem aber stehen sich erstmals auch über Grenzen hinweg verschiedene Gruppierungen gegenüber: Bedienstete im öffentlichen und im privaten Sektor, EU-Befürworter und -Gegner, 'Globalisierungsgewinner' und 'Globalisierungsverlierer', etc.
Einige dieser Konflikte wurden vor nationale Verfassungsgerichte getragen, etwa in Deutschland die Hilfspakete oder in Portugal die Gehaltskürzungen im öffentlichen Dienst. Verfassungsgerichte stehen dann, ähnlich wie heute in der Corona-Krise, vor der Herausforderung, einerseits auf den Handlungsdruck in der Krise zu reagieren und andererseits den Anspruch der Verfassung zu sichern. Die Verfassung muss auch in der Krise normative Grenze von politischem Handeln bleiben und Orientierung bieten. Verfassungen müssen aber im Lichte neuer Herausforderungen auch aktualisiert werden. Bei den transnationalen Solidaritätskonflikten liegt ein Problem aber oft in den nationalen Brillen, die die nationalen Verfassungsgerichte fast zwangsläufig aufhaben.
Mich interessiert deshalb besonders, welche Möglichkeiten es gibt, diese transnationale Dimension im Verfassungsrecht zu berücksichtigen. Eine Idee wäre es etwa, dass Verfahren vor nationalen Verfassungsgerichten horizontal geöffnet werden, damit Vertreter anderer EU-Mitgliedsstaaten zu Wort kommen können. Dann würde auch sichtbar werden, wie sich die Entscheidung eines Verfassungsgerichts auf die Verfassungen und demokratischen Strukturen anderer Mitgliedstaaten auswirkt.
Sie haben Ihre Maîtrise en Droit in Paris, Ihren LL.M. in Berkeley und diverse Forschungsaufenthalte, u.a. in Thessaloniki, Athen, Lissabon und Madrid absolviert. Wie wesentlich ist die Bereitschaft ins Ausland zu gehen für die Forschung einerseits und die wissenschaftliche Karriere andererseits?
Ich denke, für die Wissenschaft ist Neugier sehr wichtig. Meine Neugier war daher für mich immer eine große Motivation, insbesondere auch um ins Ausland zu gehen. Ich habe mich immer dafür interessiert, kennenzulernen, wie andere Länder auf unser Rechtsystem schauen. Außerdem finde ich spannend zu verstehen, wie sie ihre eigenen Institutionen wahrnehmen – gerade aus den jeweiligen historischen und sozialen Erfahrungen heraus. Mein letzter Auslandsaufenthalt war in dieser Hinsicht besonders spannend. In Griechenland habe ich mich mit dem dortigen Verfassungsrecht in der Eurokrise beschäftigt. Interessanterweise spielen dort weder die Verfassung noch der Staatsrat, also das Gericht, das sie interpretiert, eine besondere Rolle in der politischen Diskussion. Das kann man mit der Rolle des Bundesverfassungsgerichts bei uns gar nicht vergleichen. Auslandsaufenthalte sind aber auch persönlich eine wahnsinnige Bereicherung. Ich finde es eine tolle Erfahrung, richtig in ein anderes Land, seine Gesellschaft und seine Kultur eintauchen zu können. Außerdem kann die Außenperspektive den eigenen Horizont öffnen, neue Perspektiven für die Kritik von Altbekanntem öffnen und die eigene Neugier auf Unerwartetes verstärken.
Sie pendeln derzeit zwischen Erlangen und Linz, ca. 350 km. Nach einer britischen Studie erleben Pendler Stressspitzen wie Jetpiloten im Kampfeinsatz. Wie wirkt sich diese Entfernung auf Ihren beruflichen und persönlichen Alltag aus?
(Lacht). Im Vergleich zu meiner Zeit in Heidelberg ist es wegen der besseren Zugverbindung gar nicht mehr so schlimm. Außerdem hat die Distanz auch ihre positiven Seiten. Man ist auch mal ‚richtig weg‘, wie in einem Kurzurlaub und hat einen Tapetenwechsel. Das kann sich gerade im stressigen Semesteralltag positiv auswirken. Auf der anderen Seite bedeutet das Pendeln auch sehr viel Organisation. Man hat Freunde an beiden Orten sowie an dritten Orten; davon kommen gerade letztere viel zu kurz, da man seine Wochenenden stark viel mehr im Voraus planen muss. Ich habe keine Kinder, aber für Menschen mit Kindern ist ein solcher Alltag sicher noch viel herausfordernder.
Sie sind eine große Befürworterin von Peer-Coaching. Was genau kann man sich darunter vorstellen?
Es gibt verschiedene Modelle des Peer-Coachings. In unserem Fall sieht das so aus: Wir treffen uns einmal im Monat über Skype, per Telefon oder in Person und unterhalten uns darüber, was sich in den Bereichen Beruf und Privates bzw. an der Schnittstelle beider ereignet hat. Das nehmen wir zu Protokoll. Anschließend geben wir uns Feedback. Danach legt jede von uns für sich konkrete Commitments fest, in denen sie Ziele formuliert, die sie bis zum nächsten Mal erreicht haben möchte. Diese können sich auch auf Privates beziehen, etwa sich mehr Zeit für die Familie oder die Freizeit zu nehmen, gelassener zu sein, o.ä. Im Grunde versuchen wir uns gegenseitig dabei zu kontrollieren, uns nicht zu viel vorzunehmen und das, was wir uns vornehmen, zufriedener zu erreichen. Dieses sogenannte Monitoring ist meiner Meinung nach eine der wichtigsten Funktionen, da es gewährleistet, dass wir genug Kräfte für unsere Projekte im Beruflichen wie im Privaten haben. Dazu gehört auch, zugeben zu können, dass man gerade ausgelaugt ist oder dass das eigene Privatleben gerade besondere Anforderungen stellt. Gerade weil wir in der Wissenschaft dazu neigen, uns alle im Zweifel mit der inneren Peitsche anzutreiben, ist es gelegentlich gut, wenn das äußere Umfeld einem sagt: Es ist okay, mal einen Gang runterzuschalten.
Welche Vorteile hat Peer-Coaching gegenüber dem klassischen Mentoring oder einer Supervision?
Mit der Supervision kann ich es nicht gut vergleichen, da ich damit keine wirkliche eigene Erfahrung gesammelt habe.
Mentoring ist meines Erachtens aber etwas ganz anderes, da man sich typischerweise mit jemandem austauscht, der bereits ein bis zwei berufliche Schritte weiter ist und dadurch aus eigener Erfahrung berichten kann, wie er oder sie mit bestimmten Situationen umgegangen ist oder einen sonst aus Erfahrung heraus anleiten kann. Das kann bisweilen sehr hilfreich sein, etwa wenn es um die Platzierung eines ersten Beitrags in großem Journal, um Bewerbungsverfahren oder um die Planung von Karriereschritten geht – hier kann ein Mentoring tolle Möglichkeiten eröffnen. Auch ein Role Model zu haben kann hilfreich sein.
Im Peer-Coaching ist das etwas anders. Hier befinden sich die Teilnehmer*innen auf der gleichen Karrierestufe. Das kann Nachteile mit sich bringen, da man noch keine Distanz zu der gestellten Frage hat, aber auch Vorteile, da bestimmte Aspekte mit mehr Abstand womöglich bereits verblasst sind. Im Peer-Coaching erleben wir darüber oft Bumerang-Effekte: Der Rat, den ich gebe, kann mich schnell wieder selbst treffen. Oder ein Problem wiederholt sich mit Blick auf ein anderes Peer-Coaching-Mitglied. Dadurch ist man viel näher dran und hat vielleicht eine größere Fähigkeit, diese Situation noch wirklich nachzuempfinden. Zudem ist es im kleinen und engen Rahmen des Peer-Coachings oft einfacher, auch private Sachen ansprechen zu können.
Letztlich sind beides einfach zwei unterschiedliche Formate, die man auch wunderbar miteinander kombinieren kann.
Wie kann man solche Strukturen des kollegialen Austauschs finden oder sogar selbst initiieren?
Wenn man sich selbst in einer passenden Situation befindet, sollte man sich nicht scheuen, mit anderen auch über die Sachen zu sprechen, die einen beschäftigen, auch oder gerade über die Sachen, die einem schwerfallen oder mit denen man sich unsicher ist. Wenn man es tut, stellt man schnell fest, dass es anderen Leuten genauso geht und man trifft schnell Leute, bei denen man den Eindruck hat, dass die Chemie stimmen und man sich gegenseitig helfen könnte. Gelegentlich kann es auch im Freundeskreis passen; jedenfalls entwickeln sich aus dem Peer-Coaching mit ziemlicher Sicherheit neue Freundschaften. So ist das jedenfalls bei uns. Das setzt aber immer voraus – und das wird einem in der Wissenschaft nicht beigebracht – dass man Gefühle, insbesondere Schwächen oder Schwierigkeiten, thematisiert und nicht unter den Teppich kehrt.
In unserem Vorgespräch haben Sie angedeutet, dass Sie nicht ausschließlich positive Erfahrungen mit Frauennetzwerken gemacht haben. Welche Situationen haben Sie dabei im Auge?
Frauennetzwerke können Frauen durchaus empowern und Raum schaffen, um Probleme zu thematisieren, die sich in bestimmten gemischten Kontexten schwieriger thematisieren lassen, da die Erfahrungen der Mitglieder in diesen Netzwerken sicher homogener sind. Dafür müssen sie von den Teilnehmerinnen aber ernst genommen werden, d.h. man muss sich auch als Teil des Netzwerks begreifen. Dazu gehört für mich, nicht nur dieselben ‚männlichen‘ Verhaltensweisen zu kopieren, insbesondere mit Blick auf Machtsymmetrien, autoritäre Diskussionsmuster und die Ausnutzung persönlicher Abhängigkeiten. Leider passiert genau das aber gar nicht so selten. Das scheint mir jedoch keine produktive Lösung des Problems zu sein. Wenn Frauennetzwerke funktionieren sollen, müssen sie sich von patriarchalen Macht- und Kommunikationsstrukturen distanzieren und sich selbst kritisch hinterfragen. Wir sind ja nicht automatisch weniger hierarchisch, nur weil wir allein unter Frauen sind. Wenn wir aber alles genauso nur ohne Männer machen wollen, sehe ich darin wenig Sinn. Es kommt also darauf an, wie wir Frauennetzwerke ausgestalten.
Außerdem glaube ich, dass Frauennetzwerke nur ein Element unter vielen sein können. Damit sich wirklich etwas ändert, ist es essentiell, dass wir Gleichstellung auch in gemischten Gruppen thematisieren.
Während der Anteil der Jura-Studentinnen mittlerweile ca. 60 Prozent beträgt, liegt der Anteil von Frauen auf den voll ausgestatteten W 3-Lehrstühlen bei unter 16 Prozent. Was sind die Ursachen dafür, dass Frauen auf Professuren nach wie vor stark unterrepräsentiert sind?
Ganz allgemein, nicht nur im rechtswissenschaftlichen Bereich, bewirkt der Druck auf dem Weg zu einer Professur – viel zu publizieren, präsent zu sein, etc. – dass die Vereinbarkeit mit einer Familie sehr leidet. Das permanente sich selbst Antreiben und Output zu produzieren und die vielen kompetitiven Situationen vermitteln außerdem das Gegenteil einer gewissen Leichtigkeit, die viele Menschen brauchen, um kreativ zu sein. Beides trifft im Grunde genommen Männer wie Frauen, aber so wie unsere Gesellschaft gestrickt ist, sind es oft die Frauen, die sich gegen ein solches Karrieremodell entscheiden, weil sie eben auch die Erwartungshaltung besonders stark spüren, in puncto Familien- und Care-Arbeit besonders viel zu leisten.
Daneben spielt der Habitus meines Erachtens eine große Rolle. Vielen Männern wurde gewissermaßen von klein auf antrainiert sich durchzusetzen, während dieselben Verhaltensweisen bei Frauen dagegen von klein auf häufig negativ als „bossy“ abgetan werden. Das ist eine Frage der Sozialisation. Wir alle – auch ich – haben die Tendenz, wenn es um Einstellungsprozesse geht, am liebsten Leute einzustellen, die uns ähnlich sind, die Verhaltensmuster an den Tag legen, mit denen wir vertraut sind. Wenn also die Professorenschaft im Ausgangspunkt sehr männlich ist, werden Männer wahrscheinlicher gefördert. Speziell das Jura-Studium wurde zudem auch erst relativ spät für Studentinnen geöffnet. Das trägt sicher auch dazu bei, dass sich der Wandel in diesem Fach langsamer als in anderen Bereichen entwickelt.
Letztlich spielt auch das Fehlen von weiblichen Vorbildern eine Rolle – typischerweise erlebt man als Studentin kaum oder gar keine Professorinnen. Das habe ich auch in Erlangen z.B. stark gemerkt. Dort gab es zwar mehrere habilitierte Frauen, aber keine hatte bislang formal eine Professur inne. Dass meine Kollegin und ich dort nun als junge Professorinnen angefangen haben, haben einige Studentinnen als Bereicherung empfunden.
In vielen Stellenausschreibungen an Universitäten findet sich mittlerweile den Zusatz, dass "bei gleicher Eignung und Fähigkeit Frauen bevorzugt eingestellt werden". Würden Sie sagen, dass die wissenschaftliche Karriere für Frauen heutzutage leichter als für Männer ist?
Nein, das ist in meinen Augen ganz klar eine verzerrte Wahrnehmung. Frauen müssen im Schnitt, um eine Professur zu erlangen, immer noch mehr leisten als Männer. Ganz fantastische Frauen sind am Ende zwar auch oft erfolgreich, aber das bedeutet nicht, dass es alle Frauen einfacher hätten. Vielmehr gibt es immer noch wahnsinnig viele Verfahren, in denen qualifizierte Frauen gar nicht erst eingeladen werden, um den Anforderungen des angesprochenen Zusatzes zu entgehen. Es ist auch relativ leicht am Ende eines Verfahrens zu sagen, eine Frau sei dann im konkreten Berufungsgespräch nicht überzeugend gewesen. Wenn man eine Frau nicht einstellen will, findet sich ein Grund – Zusatz hin oder her. Hinzu kommt das bereits zuvor angesprochene Habitus-Problem. Hinter der These, dass es Frauen es heute leichter als Männer hätten, steckt oftmals viel Frust, den verständlicherweise auch Männer nach vielen erfolglosen Verfahren empfinden. Ich finde die Aussage, Frauen hätten es leichter, aber schon bemerkenswert. Sie zeigt, dass es offenbar viele Männer selbstverständlich finden, dass sie die zu besetzende Stelle bekommen. Dass die Frau, die sie bekommt, einfach besser geeignet gewesen sein könnte, kommt manchen Männern offenbar gar nicht in den Sinn. Letztendlich zeigt die These aber nur, dass es halt auch für Männer manchmal nicht einfach ist.
Wo können nach Ihrer Einschätzung die entscheidenden Stellschrauben gestellt werden, um eine Annäherung der Geschlechterverhältnisse bei der Besetzung von Lehrstühlen zu fördern?
Mentoring-Programme können tatsächlich eine sinnvolle Einrichtung sein. Wir müssen uns an der Universität immer wieder klarmachen, dass wir alle daran mitwirken und uns immer wieder in unserem Verhalten darauf hinterfragen müssen, ob wir nicht doch geschlechtsspezifisches Verhalten fördern etc. Außerdem brauchen wir neben Programmen für beide Geschlechter auch solche, die gezielt Frauen fördern, die einen wissenschaftlichen Weg einschlagen wollen.
Was möchten Sie jungen Frauen, die eine Universitätskarriere anstreben, mit auf den Weg geben?
Wichtig ist, sich nicht entmutigen zu lassen und auf das eigene Bauchgefühl zu vertrauen. Sie sollten sich andere Frauen oder Männer suchen, denen sie vertrauen, mit denen sie sich austauschen können und wollen, sei es in Form eines Peer-Coachings oder in Form eines Mentorings durch ältere Kolleg*innen. Sie sollten sich insbesondere von Durststrecken, die jede wissenschaftliche Karriere hat, nicht verunsichern lassen. Sie sollten nicht die Neugier verlieren, sondern sich über das ungewöhnliche Privileg freuen, von Inhaltlichem bis hin zu neuen Fähigkeiten ständig wieder dazulernen zu können. Außerdem haben wir Wissenschaftler*innen die Möglichkeit, Dinge in der Wissenschaft und in der Welt mitzugestalten. Das finde ich sehr ermutigend. Vor allem aber sollte man unbedingt gelassen bleiben, wenn man in die Wissenschaft gehen will.
Welche Juristin hat Sie so inspiriert, dass sie als Vorbild für breaking.through nominiert werden sollte?
Marei Pelzer, heute Professorin an der Hochschule Fulda und zuvor rechtspolitische Referentin bei Pro Asyl. Sie ist eine großartige Juristin, ein sehr politisch denkender Mensch und eine unglaubliche Analytikerin. Zudem bewundere ich sie dafür, dass sie erfolgreich aus ihrer Tätigkeit für eine NGO heraus in die Wissenschaft gegangen ist.
Außerdem nominiere ich Jelena von Achenbach, Juniorprofessorin in Gießen. Sie ist eine der klügsten und messerschärfsten Jurist*innen, die ich kenne. Ihre intellektuelle Kapazität und ihr ausgeprägtes soziales Gewissen machen sie für mich zu einem außergewöhnlichen Vorbild und es macht Spaß, mit ihr zusammen zu arbeiten.
Vielen Dank für das spannende Interview!
Erlangen, 17. April 2020 / Frankfurt am Main, 5. Februar 2020. Das Interview führte Dr. Nadja Harraschain.
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