Awet Tesfaiesus im Porträt
„Eine Schwarze Frau im Bundestag hat Symbolkraft.“
Awet Tesfaiesus, MdB über die Bedeutung der Repräsentation von Minderheiten, ihre Tätigkeiten als Bundestagsabgeordnete und Rechtsanwältin sowie ihre Motivation für politisches Engagement.
Sie sind Mitglied des Deutschen Bundestags für die Partei Bündnis 90/die Grünen. Warum haben Sie sich für eine politische Laufbahn entschieden?
Aufgrund meiner Biografie wurde ich schon früh politisiert. Die rassistischen Anschläge der 90er Jahre haben mich sehr geprägt. Heute erleben wir die zunehmende Normalisierung von Rassismus im öffentlichen Diskurs am eigenen Leib: Von Thilo Sarrazins völkischer Rhetorik, über Seehofers menschenfeindliche Diskursführung beim Thema Migration, bis hin zu den NSU-Morden auch in meiner Heimatstadt Kassel und dem Einzug der AfD in den Bundestag. All diese Ereignisse haben ihre Spuren hinterlassen und mich immer wieder vor die Frage gestellt: „Wie kann ich angesichts dieser Entwicklungen eine diskriminierungsfreie Gesellschaft aktiv mitgestalten?“. Das war stets der Motor für meine politische Arbeit.
Die Anschläge von Hanau waren letztlich der entscheidende Auslöser, um meinen Beruf als Rechtsanwältin aufzugeben und mich hauptberuflich dieser Arbeit zu widmen. Die einzige produktive Konsequenz mit dem persönlichen und kollektiven Schmerz umzugehen, war für mich, an einem politischen Umbruch aktiv mitzuarbeiten.
Dass Deutschland eine Demokratie ist, in dem gewählte Repräsentanten ein politisches Amt bekleiden können, ist eine wichtige Errungenschaft. Allerdings ist es kein Geheimnis, dass der deutsche Bundestag kein Abbild der deutschen Gesellschaft ist – was Alter, race, Gender, Klasse / Bildungsgrad oder Behinderung betrifft, gibt es eine Schieflage in der politischen Repräsentation unserer Gesellschaft und das hat Konsequenzen in Bezug auf die Art der politischen Entscheidungen, die getroffen werden.
Wie sieht Ihr Alltag als Bundestagsabgeordnete aus?
Die Woche ist durch den parlamentarischen Kalender vorgegeben. In der Regel findet im Wechsel eine Wahlkreiswoche und eine Sitzungswoche in Berlin statt. In den Wahlkreiswochen nehme ich mir Zeit für Gespräche mit Wähler*innen, Unternehmen und sozialen Einrichtungen. Die Rückkopplung mit ihnen ist mir sehr wichtig. Außerdem nutze ich die sitzungsfreie Zeit, um mich inhaltlich auf die Sitzungswoche vorzubereiten und Gesetzesentwürfe zu lesen und zu analysieren. Während der Sitzungswochen sind alle Abgeordneten im Bundestag. Die Woche ist geprägt von unterschiedlichen Gremien wie Ausschüssen, Plenarsitzungen, Vorbereitungstreffen der Obleute, Fraktionssitzungen etc. Ich vertrete die Grünen im Kultur- und Medienausschuss als Obfrau und bin zugleich als Vollmitglied im Rechtsausschuss aktiv. Daneben sitze ich in diversen Unterausschüssen der beiden Ausschüsse und bin für den Kulturausschuss in diversen Verwaltungs- und Stiftungsräten unterschiedlicher Kultureinrichtungen.
Um sinnvolle Entscheidungen in den Ausschüssen treffen zu können, ist ein wichtiger Aspekt als Abgeordnete der Austausch mit relevanten Stakeholder*innen – in meinem Fall sind das Menschen und Organisationen, die zu meinen Berichterstatterinnen-Themen im Kultur- und Rechtsbereich arbeiten. Es gehört zu den Aufgaben, die mir am meisten Freude bereitet. Ich empfinde es als ein Privileg, mich mit Pionier*innen und Expert*innen auszutauschen, die sich in ihrem jeweiligen Bereich für eine bessere, inklusivere und zukunftsfähige Gesellschaft einsetzen.
Ihre Familie lebt in Kassel. Wie organisieren Sie das Leben zwischen Berlin und Kassel?
In den sitzungsfreien Wochen lebe ich in Kassel und gehe meiner Wahlkreisarbeit nach. Dort bin ich zuhause, während Berlin eher ein Arbeitsort ist. Dem eng getakteten Alltag als Abgeordnete gerecht zu werden und gleichzeitig meiner Rolle als Mutter, Partnerin, Schwester und Tochter nachzukommen, gehört für mich zu den größten Herausforderungen meines Jobs. Ohne die Unterstützung meiner Familie und dem Verständnis meiner Freund*innen für meinen eng getakteten Zeitplan wäre es sicherlich nicht möglich.
Wie sah Ihre anwaltliche Tätigkeit aus?
Die Arbeit als Rechtsanwältin habe ich immer als sehr erfüllend erlebt. Das hat zum einen damit zu tun, dass ich mir die Arbeit als selbständige Anwältin sehr frei gestalten konnte. Zum anderen nahm ich mir die Freiheit, das zu machen, was mir wichtig war – auch politisch. Ich habe mir meine Mandate ausgesucht und nicht nur nach Wirtschaftlichkeit entschieden. So hatte ich jede Woche die Möglichkeit, Schicksale zu wenden, Menschen in schwierigen Situationen zu begleiten und nach den besten Lösungen zu suchen.
Rückblickend bin ich froh, diesen Beruf gewählt zu haben, den ich mir als Studentin aufgrund mangelnder Vorbilder nur schwer vorstellen konnte.
Sie waren unter anderem im Migrationsrecht tätig. Wie muss sich das Migrationsrecht in Deutschland ändern, um die Situation für Asylsuchende und Anwält*innen zu verbessern?
Das Recht auf Asyl wurde aufgrund der Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg in unserem Grundgesetz verankert. Zudem wurde es in der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen und der Genfer Flüchtlingskonvention als universelles Menschenrecht festgeschrieben.
Dennoch sollten wir bedenken, dass Migration nicht erst seit dem Zweiten Weltkrieg ein fester Bestandteil unserer Menschheitsgeschichte ist. Die Beweggründe für Migration sind und waren schon immer sehr vielfältig. Es ist von entscheidender Bedeutung, legale Migrationswege zu schaffen. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz stellt hierbei einen wichtigen ersten Schritt dar.
Darüber hinaus sollte die Verantwortung für ankommende Menschen fair auf alle EU-Mitgliedsstaaten verteilt werden, anstatt sie zum großen Teil den Ländern an den Außengrenzen der EU zu überlassen.
Ich persönlich halte Arbeitsverbote für wenig sinnvoll. In einer Gesellschaft, die sich stark über Erwerbstätigkeit definiert, ist die Möglichkeit den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen, ein wesentlicher Bestandteil eines menschenwürdigen Lebens. Zudem könnte der Arbeitskräftemangel damit abgemildert und unsere Sozialsysteme entlastet werden.
Man könnte an dieser Stelle auf viele weitere Punkte eingehen, aber ich denke das würde den Rahmen hier sehr sprengen.
Wie profitieren Sie in Ihrer Tätigkeit als Bundestagsabgeordnete von Ihren Erfahrungen als Anwältin?
Der Bundestag beschäftigt sich als das gesetzgebende Organ sehr viel mit Gesetzen. Natürlich ist es dabei hilfreich, juristisch ausgebildet zu sein. Als Mitglied des Rechtsausschusses profitiere ich zudem von meiner langjährigen praktischen Erfahrung. Ich weiß aus eigener Anschauung, wo Handlungsbedarfe in Anwaltschaft aber auch in der Justiz sind. Daneben würde ich aber auch sagen, dass ich nach vielen Jahren der anwaltlichen Tätigkeit einen breiten Blick auf viele gesellschaftliche Themen habe.
Als Schwarze Juristin im Deutschen Bundestag haben Sie eine besondere Vorbildfunktion. Welche Themen liegen Ihnen in diesem Zusammenhang besonders am Herzen?
Ich bin fest davon überzeugt, dass mein Weg über mich als Person hinausgeht. Das bedeutet: Die Tatsache, dass eine Schwarze Frau in dieser Legislaturperiode Teil des deutschen Bundestages ist, hat Symbolkraft und ich hoffe, dass Menschen, die selbst Teil einer marginalisierten Gruppe sind, mich wahrnehmen und sich ermutigt fühlen sich ebenfalls politisch einzubringen.
Wie ich schon anfangs gesagt habe, braucht es besonders viel Engagement von Menschen, deren Perspektive machtpolitisch strukturell unterrepräsentiert sind. Keines der Probleme, die wir als Gesellschaft derzeit erleben, lassen sich von einzelnen Personen lösen. Es braucht uns alle und die Individualität unserer Perspektiven und Erfahrungen ist unsere Stärke. Insbesondere angesichts des Erstarkens rechtspopulistischer Bewegungen und Parteien wünsche ich mir von Herzen, dass Menschen, die den progressiven und antidiskriminierenden Wandeln unserer Gesellschaft vorantreiben, sich nicht von etablierten Machtstrukturen einschüchtern lassen.
Frauen sind in den meisten juristischen Berufen noch unterrepräsentiert und werden in der Regel auch schlechter bezahlt. Dies gilt aber umso mehr für POC- Frauen und Frauen mit Migrationsgeschichte. Wie kann unsere Gesellschaft hier auf eine Gleichstellung hinwirken?
Um die Gleichstellung von BiPOC-Frauen in juristischen Berufen voranzutreiben, sind umfassende gesellschaftliche Maßnahmen erforderlich. Als Mitglied des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages engagiere ich mich aktiv für einen besseren Schutz strukturell benachteiligter Menschen.
Jenseits der rechtlichen Dimension bedarf es jedoch vieler weiterer Schritte, um die Lage unterrepräsentierter und schlechter bezahlter Frauen, insbesondere BiPOC, zu verbessern. Bewusstseinsbildung spielt eine Schlüsselrolle, um bestehende Geschlechterstereotypen und Diskriminierung zu überwinden. Öffentliche Aufklärungskampagnen und Schulungen können dazu beitragen, das gesellschaftliche Bewusstsein zu schärfen.
Es ist entscheidend, Vielfalt und Inklusion aktiv zu fördern, sowohl in der Unternehmenswelt als auch in staatlichen Institutionen. Transparente Einstellungspraktiken und gezielte Maßnahmen zur Chancengerechtigkeit in Führungspositionen können hierbei eine bedeutende Rolle spielen. Berufliche Chancengleichheit muss nicht nur gesetzlich verankert, sondern auch konsequent durchgesetzt werden.
Politische Repräsentation spielt eine Schlüsselrolle bei der Gestaltung von Chancengerechtigkeit. Eine ausgewogenere Vertretung von BiPOC-Frauen in politischen Gremien und Entscheidungspositionen ist nicht nur ein Zeichen der Gleichberechtigung, sondern gewährleistet auch, dass die Anliegen aller Frauen angemessen berücksichtigt werden.
Was würde Sie einer jungen Juristin raten, die zu den oben genannten Gruppen gehört?
Es ist nicht einfach, das Jurastudium zu meistern, für mich gehört dazu eine ordentliche Portion Mut und Zielstrebigkeit.
BiPOC-Personen und insbesondere Frauen*, stehen vor zusätzlichen Herausforderungen im Jurastudium und in juristischen Berufen, die es noch schwieriger machen, Gleichstellung zu erreichen. Für junge Juristinnen, insbesondere für BiPOCs, wird die Herausforderung durch strukturelle Hürden im Arbeitsumfeld verstärkt.
Die langwierige Ausbildung im juristischen Bereich kann besonders für BiPOC-Frauen eine zusätzliche Belastung darstellen. Der Mangel an Vielfalt in der Repräsentation kann zudem (das Gefühl der) Isolation verstärken. In dieser Situation ist es von entscheidender Bedeutung, dass junge Juristinnen, insbesondere marginalisierte Personen, Mentorinnen finden, die ihnen auf ihrem Weg Unterstützung bieten können.
Das Aufbauen von Netzwerken ist für den beruflichen Erfolg entscheidend. Marginalisierte Frauen in juristischen Berufen sollten ermutigt werden, auf Menschen zuzugehen, an Veranstaltungen teilzunehmen und sich mit anderen auszutauschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben.
Welche Juristin hat Sie so inspiriert, dass sie als Vorbild für breaking.through nominiert werden sollte? Wieso?
Leider gab es kaum Juristinnen, mit den ich mich identifizieren konnte. Eine, die ich aber stets bewundert habe, war Ruth Bader Ginsberg.
Vielen Dank für das spannende Interview!
Kassel / Berlin, 27. November 2023. Die Fragen stellte Anna Isfort.
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