Birte Meyerhoff im Porträt
„Neuen Herausforderungen optimistisch und selbstbewusst begegnen!"
Birte Meyerhoff, kürzlich ernannte Präsidentin des Landgerichts Hamburg, über ihren bisherigen beruflichen Alltag als Vizepräsidentin von Deutschlands größtem Landgericht, den Umgang mit Tätigkeitswechseln und dazu, was eine gute Führungspersönlichkeit ausmacht.
Frau Meyerhoff, Sie sind seit 2021 Vizepräsidentin des Landgerichts Hamburg. Seit 1999 arbeiten Sie als Richterin in unterschiedlichen Positionen. War für Sie schon immer klar, dass Sie in die Justiz gehen wollen?
Also hundertprozentig klar war mir das zu Beginn meines Studiums natürlich nicht. Ich hatte damals noch keine konkrete Vorstellung davon, was ich nach dem Abschluss beruflich machen wollte. Allerdings konnte ich mir bereits während des Studiums das richterliche Berufsbild als solches besser und zu mir passender vorstellen als eine anwaltliche Tätigkeit, weshalb ich im Verlaufe des Studiums zunehmend den Berufswunsch entwickelte, Richterin zu werden.
Ganz konkret ist der Wunsch dann mit den ersten echten Einblicken in die praktische Berufstätigkeit, also während meines Referendariates, geworden. Das habe ich unter anderem am Amtsgericht Göttingen, bei den Staatsanwaltschaften Göttingen und Lüneburg und am Oberlandesgericht Celle absolviert. Die jeweiligen Stationsausbildungen haben mir sehr viel Freude bereitet und mich begeistert. Bei meiner ersten Station im Zivilrecht am Amtsgericht Göttingen hatte ich eine tolle Ausbildungsrichterin, die ich mir zum Vorbild genommen habe. Sie hat Freude an ihrer Arbeit repräsentiert, war fleißig und zupackend und zugleich bodenständig. All das kam meiner Vorstellung davon, wie ich später arbeiten wollte, schon damals sehr nahe. Darüber hinaus empfand ich es als spannend zu erfahren, wie man eine Akte praktisch von A nach B bringen konnte, d.h. sie so bearbeitet, dass ein Verfahren sowohl inhaltlich als auch formal organisatorisch vorangebracht werden kann. Alle Referendarstationen in der Justiz haben mich begeistert und von da an war mir klar: Ich will in die Justiz gehen.
Wie sieht Ihr Arbeitsalltag als Vizepräsidentin von Deutschlands größtem Landgericht aus?
Manches ist berechenbar – allerdings nicht alles. Mein Arbeitsalltag besteht zu einem Viertel aus spruchrichterlicher Tätigkeit, ich bin zu einem Viertel Vorsitzende einer Großen Strafkammer für Jugendschutzsachen. Dort sind unter anderem Hauptverhandlungstermine zu planen und Beratungen mit meinen Beisitzerinnen und Beisitzern rund um das Verfahren durchzuführen.
Einen weiteren und ganz wesentlichen Teil meiner Arbeitszeit nimmt die Personalplanung und -steuerung, der Personaleinsatz sowie das Durchführen von Personalgesprächen sowohl im richterlichen als auch nichtrichterlichen Bereich ein. Dies geschieht zum Teil im persönlichen Kontakt aber zum Teil auch planerisch am Schreibtisch. Ein weiterer Aspekt sind Gebäude- und Hausrechts-Management-Themen und die Beteiligung an zahlreichen internen und gerichtsübergreifenden Lenkungs- und Arbeitsgruppen. Dazu gehören zum Beispiel Arbeitsgruppen für die Implementierung von Digitalisierungsprozessen, unter anderem die Einführung der elektronischen Akte in die Ordentliche Gerichtsbarkeit, zu Sicherheitsbesprechungen in Bezug auf die organisatorische Bewältigung von großen, sicherheitsrelevanten Prozessen und der regelmäßige Austausch mit der Behörde für Justiz und Verbraucherschutz zu Haushaltsfragen, aber auch zu der Frage der Erhaltung und Sanierung des denkmalgeschützten, aber sehr renovierungsbedürftigen, modernen Arbeitserfordernissen nicht mehr genügenden Strafjustizgebäudes. Ebenfalls gehört der regelmäßige Austausch mit Gremien, wie etwa dem Richter- und Personalrat und die Arbeit mit dem Präsidium, das die richterliche Geschäftsverteilung vornimmt, zu meiner Tätigkeit.
Aber das Leben ist bunt und das heißt, dass auch viel Unvorhergesehenes passiert. Wir haben beispielsweise erlebt, dass vor dem Strafjustizgebäude eine vermeintliche Bombe platziert wurde, dazu Brandalarme und seit Neustem eine nicht benutzbare Hoftorzufahrt zum Strafjustizgebäude. Das alles sind Themen, von denen ich morgens noch nicht weiß, dass sie mittags passieren. Solche Situationen erfordern schnelle und gleichzeitig besonnene, alle Aspekte bedenkende Entscheidungen. Das ist sehr herausfordernd und naturgemäß mit einer hohen Verantwortung verbunden, der ich mir durchaus bewusst bin. Gleichzeitig gehen damit aber viele Gestaltungsmöglichkeiten einher, was jeden Tag aufs Neue wieder erfüllend ist.
Zum 1. Dezember 2024 wurden Sie Präsidentin des Landgerichts Hamburg. In welchen Punkten unterscheidet sich diese Position von Ihrer jetzigen als Vizepräsidentin?
Infolge meiner bisherigen Arbeit als Vizepräsidentin und der engen Zusammenarbeit mit dem bisherigen Präsidenten des Landgerichts Bernd Lübbe und dessen Vertretung bin ich mit dem präsidialen Aufgaben- und Anforderungsprofil sehr gut vertraut. Insofern verändern sich meine alltäglichen Aufgaben inhaltlich nicht wesentlich. Wir haben auch bisher die anfallenden Aufgaben nicht so strikt untereinander aufgeteilt, sondern nach Bedarf agiert, sodass jede/r von uns auch die Aufgaben des/der anderen kennt. Entscheidend verändern wird sich nunmehr aber die Übernahme der Letztverantwortung für das mit mehr als 600 Beschäftigten größte Landgericht Deutschlands und die Übernahme der Repräsentation des Landgerichts nach außen in einem noch weitreichenderen Maße, als ich das bisher als eine meiner Aufgaben empfunden habe. Ich habe mich bisher weitestgehend auf die Innenrepräsentanz beschränkt, was sich sicherlich nunmehr ein Stück verändern wird.
Im Jahr 2008 wechselten Sie in die Position der Leiterin der Teilanstalt für Jugendarrest in die Justizvollzugsanstalt Hahnöfersand. War diese neue Stelle mit einer großen Umstellung für Sie verbunden?
Ja, schon. Ich war im Jahr 2008 zwar bereits seit neun Jahren als Richterin in unterschiedlichen Bereichen tätig gewesen, hatte aber neben der spruchrichterlichen Tätigkeit bis zu dem Zeitpunkt noch keine Verwaltungstätigkeit ausgeübt, insbesondere keinerlei Personalverantwortung übernommen. Mit der Übernahme der Leitung der Teilanstalt für Jugendarrest änderte sich nicht nur das, sondern ich bewegte mich aus dem unabhängigen und recht hierarchiefreien gerichtlichen Kontext heraus in den der Justizbehörde unterstellten, hierarchisch strukturierten Strafvollzug. Mit der Tätigkeit war ein besonderes Maß an Verantwortungsübernahme für die nicht in Freiheit, mithin in einer Ausnahmesituation befindlichen, Jugendlichen verbunden, der ich gerecht zu werden hatte.
So wurde ich beispielsweise einmal nachts angerufen, weil es in der Teilanstalt eine „Meuterei“ mit Eskalationspotenzial gegeben hatte bzw. diese sich zu entwickeln drohte. Ich musste also Hals über Kopf aufbrechen, um vor Ort zu sein. Mir war klar, dass man jetzt Führungsverantwortung und schnelle Reaktionen und Entscheidungen brauchte und das war eine ganz neue Herausforderung für mich, die ich bewältigt habe und deren Bewältigung mir auch bei allen späteren Verwaltungs- und Führungsaufgaben sehr geholfen hat.
Dieser Perspektivwechsel und meine erste Führungsaufgabe haben meinen Blick auf die Justiz und meinen Arbeitshorizont ganz erheblich erweitert. Sie haben insbesondere auch meine spätere Arbeit als Strafrichterin geprägt, weil ich um die Besonderheiten des Strafvollzugs und damit um die Auswirkungen und Rahmenbedingungen der Vollstreckung strafrichterlicher Urteile wusste. Außerdem hatte ich zahlreiche Ansprechpartnerinnen und -partner im Vollzug kennengelernt. Ich finde es wichtig, dass man als Strafrichterin und Strafrichter ganz genau die Auswirkungen des eigenen Handelns, mithin die Folgen eines strafrechtlichen Urteils rund um die Vollstreckung und die Besonderheiten und Rahmenbedingungen des Vollzuges, kennt.
Zwei Jahre später wurden Sie zur Richterin am Hanseatischen Oberlandesgericht ernannt und haben dort drei Jahre lang in einem Zivilsenat mit einer Spezialzuständigkeit für den gewerblichen Rechtsschutz gearbeitet. Auch danach kam es zu weiteren unterschiedlichen Tätigkeiten. Wie sind Sie mit den vielen Wechseln umgegangen?
Bei einem Tätigkeitswechsel ist erst einmal generell ganz wichtig, offen auf die neuen Kolleginnen und Kollegen sowie auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zuzugehen und gut zuzuhören. Man sollte innerlich bereit sein etwas Neues anzugehen und dazu lernen zu wollen. Das ist eine wichtige Voraussetzung. Man sollte sich auch seiner selbst gewiss sein und wissen, was man leisten kann und was man vielleicht nicht schafft. Je besser man das selbst einschätzen kann, desto besser wird auch ein Tätigkeitswechsel gelingen. Man darf keine Angst vor dem Neuen haben, sondern sollte das Neue als Chance begreifen und Zuversicht haben, dass es gelingt. Natürlich gehört auch ein bisschen Glück dazu, dass die neue Tätigkeit für einen ebenso herausfordernd, wie Freude bringend ist und dass man auf Menschen trifft, die einem zugewandt und offen begegnen. Wenn das alles zusammenpasst, dann gelingt ein Tätigkeitswechsel gut.
Bei meinem Wechsel an das Hanseatische Oberlandesgericht bin im Wesentlichen genauso vorgegangen. Ich hatte allerdings zu dem Zeitpunkt durch meine vorherigen erfolgreichen Tätigkeitswechsel schon die Gewissheit, dass neue Aufgaben in erster Linie bereichern und die richterliche Persönlichkeit weiter ausschärfen. Insofern war ich optimistisch und selbstbewusst genug, neue Herausforderungen anzunehmen. Dies galt für meine Tätigkeit in einem Zivilsenat in einem besonderen Maße, da ich im Zivilrecht als Amtsrichterin nur für einen verhältnismäßig kurzen Zeitraum von eineinhalb Jahren und im Rahmen meiner Erprobung in einem Zivilsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts gearbeitet hatte.
Warum ließen Sie sich im Zivilrecht erproben, wenn der Schwerpunkt Ihrer damaligen spruchrichterlichen Tätigkeit im Strafrecht lag?
Ich habe damals eine zweijährige Langzeiterprobung in der Personalstelle für Referendare am Hanseatischen Oberlandesgericht gemacht, die zu zwei Dritteln mit Verwaltungstätigkeiten und zu einem Drittel mit spruchrichterlichen Tätigkeiten ausgestaltet war. Damals war die Vorgabe, dass man diese Verwaltungserprobung nur mit einer Facherprobung im Zivilrecht kombinieren konnte. Ich fand diese Verwaltungserprobung interessant und dachte mir, ich mache das einfach, auch wenn ich bisher deutlich mehr Strafrecht gemacht habe.
Ich ließ mich also in einem Rechtsgebiet erproben, mithin auf die Eignung für ein Beförderungsamt überprüfen, in dem ich mich zuvor nur wenig getummelt hatte. Das hatte natürlich deutliches Herausforderungspotenzial. Ich dachte mir, wenn ich fleißig arbeite und meinen Kopf hinreichend anstrenge, dann kann es gelingen. So bin ich das angegangen und ich bin nicht enttäuscht worden. Das Gegenteil war der Fall.
Ich habe zum ersten Mal in meiner beruflichen Laufbahn in einem Spruchkörper gearbeitet. Vorher war ich als Amtsrichterin im Wesentlichen, von den Schöffinnen und Schöffen abgesehen, allein für die Entscheidungen verantwortlich. Aus der Arbeit im Spruchkörper konnte ich einen großen Gewinn für meine persönliche berufliche Entwicklung ziehen, denn ich habe dort das erste Mal realisiert, dass ein gemeinsames Ringen um die Entscheidung, das einander Zuhören im fachlichen Kontext und das Austauschen von Argumenten insgesamt zu einem besseren, überzeugenderen und ausgeschliffeneren Ergebnis führt. Als Amtsrichterin und Amtsrichter ist man immer ein bisschen in Gefahr, dem Irrtum zu erliegen, man selbst habe „die Weisheit mit Löffeln gefressen“ und für Kritik nicht immer uneingeschränkt erreichbar zu bleiben.
Mir hat es sehr gutgetan, diese neue Facette richterlicher Arbeit kennenzulernen. Ich habe gelernt mit konstruktiver fachlicher Kritik umzugehen und zu erkennen, dass es Situationen gibt, in denen andere die bessere Wortwahl, das bessere Argument oder den besseren Schreibstil haben und dass es keine Unerträglichkeit ist, das anzuerkennen und auszuhalten. Vielmehr kann man es als Ergebnis besserer Produktivität betrachten und als Chance, sich selbst zu verbessern. Ich bin ab dem Zeitpunkt mit Änderungsvorschlägen und anderer konstruktiver Kritik ganz anders umgegangen. Das ist ein Reifungsprozess und ein Qualitäts-Entwicklungsprozess, den ich nicht missen möchte.
Ich bin insgesamt vier Jahre am Hanseatischen Oberlandesgericht geblieben und bin dort auch befördert worden. In meiner Zeit dort konnte ich viele Kolleginnen und Kollegen kennenlernen, denen ich sonst nie begegnet wäre. Auch das hat meinen Blick auf sie Justiz bereichert.
Sie hatten in Ihrer beruflichen Laufbahn mit der Leitung des Jugendgerichts am Amtsgericht, dem Vorsitz von Spruchabteilungen im Jugend- und Erwachsenenstrafrecht sowie einer Haft-, Ermittlungs- und Vernehmungsabteilung und der Position der Vorsitzenden der Öffentlichen Rechtsauskunft viele leitende Positionen inne. Was muss man dafür aus Ihrer Sicht mitbringen?
Ich denke, man benötigt neben guten Nerven und einer robusten Gesundheit, eine überdurchschnittliche Belastbarkeit sowie Reaktionsschnelligkeit auf sich verändernde Umstände. Im Menschlichen ist Empathie wichtig und die Bereitschaft, Verständnis für die Situation, das Leistungsvermögen und das Empfinden der Kolleginnen und Kollegen sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aufzubringen. Das kollegiale Miteinander ist wichtig und ich habe das immer so gelebt, dass ich als „prima inter pares“ die Verantwortung übernommen habe, aber mich nicht herausgehoben habe, in dem Sinne, dass ich mich nun besonders wichtig genommen hätte und andere bevormundet hätte. Das ist mir vollkommen wesensfremd und deswegen gehört für mich untrennbar zu der Leitung dazu, ansprechbar, beständig und verlässlich zu sein.
In einer Führungsposition muss man in der Lage sein, Entscheidungen zu treffen und die Verantwortung für die getroffenen Entscheidungen nach innen und außen zu übernehmen. Dazu gehört auch die Bereitschaft, Unangenehmes an- und zu besprechen und den Austausch nicht zu scheuen. Das ist etwas, das Führungspersönlichkeiten wirklich lernen müssen, weil kein Mensch gerne unangenehme Botschaften überbringt. Das ist mit die größte Herausforderung im Führungshandeln. Denn das ist bei dem Gegenüber häufig mit Enttäuschung und dem Gefühl von Zurücksetzung verbunden. Man kann meines Erachtens nur dann verantwortlich und mitmenschlich mit anderen umgehen, wenn man authentisch bleibt, mit möglichst gutem Beispiel vorangeht und dabei nicht die eigene Leistungsbereitschaft zugleich zum Maßstab und Anspruch an das Handeln der anderen macht. Ansonsten wird man genau das, was man nicht sein will, nämlich unerreichbar, herablassend und wenig wertschätzend.
Dabei muss man sehr genau zwischen dem Anspruch an sich selbst, der im Grunde nie hoch genug sein kann, und der Großzügigkeit anderen gegenüber unterscheiden. Wenn man diese Großzügigkeit vermittelt, weckt man das Beste in seinen Kolleginnen und Kollegen und erhält das beste Arbeitsergebnis, worauf es im kollegialen Miteinander im Wesentlichen ankommt.
Was zeichnet eine gute Richterin / einen guten Richter aus?
Auf jeden Fall sind Unvoreingenommenheit der Sache und der Person gegenüber, Mut, Entscheidungsfreude, Unabhängigkeit und ein scharfsinniger Verstand ebenso von Vorteil wie Einfühlungsvermögen, Empathie und Humanismus, die Fähigkeit, Wesentliches vom Unwesentlichen zu unterscheiden sowie treffendes Formulieren. Als Richterin und Richter sollte man immer die praktischen Auswirkungen der eigenen Entscheidungen im Blick behalten und bereit sein, herausfordernde Aufgaben anzunehmen und sich bei dem Kampf um das bessere Argument nicht vor den bereits beförderten und erfahrenen Kolleginnen und Kollegen wegducken, sondern seinen eigenen Standpunkt argumentativ verteidigen.
Was möchten Sie Juristinnen und Juristen mitgeben, die sich für eine Tätigkeit im Staatsdienst interessieren?
All das zuvor Genannte: Seien Sie mutig, bleiben Sie offen und unabhängig, setzen Sie sich für Rechtsstaatlichkeit, den Justizgewährungsanspruch und Gerechtigkeit ein!
Sie sind in der Lüneburger Heide auf einem landwirtschaftlichen Betrieb groß geworden. Im Vorgespräch haben Sie berichtet, dass Ihr Großwerden Sie immens geprägt und einen großen Einfluss auf Ihren Umgang im Gerichtssaal hat. Inwiefern?
Das stimmt. Mein Aufwachsen auf dem Hof meiner Eltern ist Prägung und Erdung bis heute. Diese Erdung hilft in der Justiz und insbesondere auch bei der Bewältigung meiner tagtäglichen Führungsaufgaben. Meine Eltern waren – wenngleich ländlichen Traditionen verbunden – immer sehr weltoffen und tolerant, diskussionsfreudig und pflegten ein offenes Haus. Sie haben meinen Geschwistern und mir viel persönlichen Einsatz abverlangt, diesen aber mit Gestaltungsfreiräumen belohnt. In diesem Klima der inneren und äußeren Freiheit haben meine Geschwister und ich – von unseren Eltern in die Pflicht genommen und zur Bewältigung der täglichen Aufgaben eingespannt – früh betriebliche Prozesse und Entscheidungen mitverantwortet und -gestaltet. Dabei wurden wir ernst genommen und sind vielen Menschen mit unterschiedlichster Herkunft und Bildung sowie verschiedensten Haltungen und Einstellungen begegnet. Diese Lebens- und Erlebensvielfalt in der Jugend hat mir geholfen, authentisch auf Menschen zuzugehen, ihnen zuzuhören, ein Gefühl für die richtige adressatengerechte Ansprache zu gewinnen und ihre Bedürfnisse einschätzen zu wissen. Das sind alles Aspekte, die im richterlichen Arbeitskontext, sowohl im Rahmen der spruchrichterlichen Tätigkeit als auch in der Verwaltung, unter Bewältigung der dortigen Aufgaben sehr weiterhelfen.
Worin sehen Sie das größte Vorurteil gegenüber dem Staatsdienst?
Ich kann hier aus eigener Anschauung nur über die richterliche Arbeit sprechen. Uns Richterinnen und Richtern wird manchmal entgegengehalten, wir würden nicht genug arbeiten. Vielleicht kennen einige den Slogan „Ich bin R1, ich geh‘ um eins“. Ich habe ein solches Verhalten in 25 Berufsjahren selbst nie gelebt und auch im Kolleginnen- und Kollegenkreis fast nie beobachtet. Ich kenne keine Richterinnen und Richter, die sich schon am Nachmittag regelmäßig auf Golf- und Tennisplätzen aufhalten würden. Diese unterstellte „Faulheit“, die vereinzelt immer noch artikuliert wird, wird unseren Kolleginnen und Kollegen nicht gerecht. Ich erlebe vielmehr das Gegenteil. Die ganz große Mehrheit der Kolleginnen und Kollegen ist intrinsisch hoch motiviert und handelt höchst verantwortungsbewusst und das unter sehr beschränkten räumlichen und finanziellen Rahmenbedingungen. Mal ganz davon abgesehen, dass der tatsächliche Arbeitsanfall eine derartige Alltagsgestaltung in der Regel auch gar nicht zulassen würde.
Ebenso wenig stimmt das in verschiedenen Fernsehsendungen vermittelte Scheinbild, als Richterin und Richter säße man in riesigen und prächtig ausgestatteten Büros ohne Akten und verfüge über eine Vielzahl eigener Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.
Neben Ihrer beruflichen Tätigkeit sind Sie auch Mutter. Ihr Mann ist ebenfalls Richter. Sechs Monate nach der Geburt Ihres ersten Kindes sind Sie zu zwei Drittel wieder bei Ihrer alten Stelle eingestiegen. Wie haben Sie sich als Familie organsiert?
Als unser ältester Sohn 2005 geboren wurde, hatten wir aus heutiger Sicht „urzeitliche“ Rahmenbedingungen, denn die Kindergartenbetreuung endete um 13:00 Uhr und kostete dabei 500 Euro pro Monat. Zu der Zeit gab es auch kein Elterngeld, sodass ich mit Ablauf des Mutterschutzes quasi Null Euro zur Verfügung hatte. Das ist heute zum Glück weitestgehend unvorstellbar. Mein Mann, der ebenfalls Richter ist, und ich hatten durch unseren Beruf beide das Privileg, unsere Arbeitszeiten zumeist aufeinander abstimmen zu können. Dadurch, dass wir ähnliches gemacht haben, hatten wir in unserer Beziehung auch nie ein Wertschätzungs- oder Gewichtungsproblem in Bezug auf die Bedeutung der Arbeit des/der jeweils anderen. Wir beide haben die Arbeit des jeweils anderen genauso wertgeschätzt wie die eigene und nicht in Frage gestellt. Dadurch haben wir uns bei der Aufgabenteilung, die nötig war, sehr gut ergänzt. Außerdem haben wir durch meine damals noch sehr gesunden Eltern und im weiterem Familienverbund in erheblicher Weise Unterstützung erfahren. Letztlich gilt aber auch im Hinblick auf das Thema Vereinbarkeit das, was auch sonst im Leben gilt: Faulheit schadet. Disziplin, frühes Aufstehen und die Bereitschaft, jeden Mittags- oder frühen Abendschlaf der Kinder zum Arbeiten zu nutzen, tragen definitiv zu dem Gelingen einer Vereinbarkeit von Beruf und Familie bei.
Was können Frauen in der Justiz, insbesondere wenn sie in Teilzeit arbeiten, tun, um „sichtbar“ zu bleiben?
Frauen in der Justiz sind zum Glück sichtbar, auch wenn sie in Teilzeit arbeiten. Das Schöne am Richterberuf ist, dass eine Teilzeittätigkeit nie mit einem Status- oder Verantwortungsverlust verbunden ist. Das ist aus meiner Sicht eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen von Teilzeitmodellen. Das unterscheidet unsere Tätigkeit von vielen Aufgabenzuschnitten bei Teilzeitbeschäftigung in der freien Wirtschaft. Aber auch wir in der Gerichtsverwaltung dürfen in unseren Bemühungen, Positionen mit Verwaltungsanteilen, mit Sonderaufgaben, also Aufgaben mit größerer Sichtbarkeit nach außen, aber insbesondere auch Führungspositionen in Teilzeit auszugestalten und zu vergeben, nie nachlassen. Dabei hilft uns heute sicherlich die Digitalisierung, die ein ortsunabhängigeres Arbeiten auch in Intervallen ermöglicht, was früher noch nicht möglich war. Insofern glaube ich, dass das zukünftig noch besser gelingen wird.
Haben Sie im Rahmen Ihrer beruflichen Laufbahn einen Ratschlag erhalten, der Sie maßgeblich beeinflusst hat bzw. welchen Rat würden Sie Ihrem jüngeren Ich geben?
Sei mutig, vertrau auf Dein gelerntes „Handwerkszeug“ und trau Dir selbst etwas zu. Sei veränderungsbereit und neugierig, aber vergiss nie, anderen gut zuzuhören.
Welche Juristin hat Sie so inspiriert, dass sie als Vorbild für breaking.through nominiert werden sollte? Wieso?
Im großen Kontext muss ich hier Elisabeth Selbert nennen, die sich schon ihr Abitur und Jurastudium in den 1920er-Jahren erkämpfen musste und allen Widrigkeiten der Zeit zum Trotz Rechtsanwältin wurde. Ihr haben wir zu verdanken, was seit 1949 in Art. 3 S. 2 GG verankert ist: Männer und Frauen sind gleichberechtigt – eine Selbstverständlichkeit, die lange keine war und um die 1949 noch gegen viele Widerstände gerungen werden musste. Allerdings ist Elisabeth Selbert im Jahr 1986 gestorben und kann daher leider nicht mehr nominiert werden.
Daher würde ich gerne eine frühere Kollegin normieren wollen, mit der ich eng zusammengearbeitet habe. Die pensionierte Hamburger Amtsrichterin Monika Schorn, die in jeder Hinsicht ein Vorbild in Haltung, Arbeitsethos und richterlicher Ethik ist und mit der sich ein Interview ganz bestimmt lohnen wird. Sie arbeitet noch heute als Angestellte in der Hamburger Justiz, betreut junge Kolleginnen und Kollegen und steht diesen mit Rat und Tat zur Seite.
Vielen Dank für das spannende Interview!
Hamburg,11. Oktober 2024. Das Interview führte Lina Runge. Vielen Dank an Karen Kelat für die Teilnahme am Vorgespräch und die Unterstützung bei der Erstellung des Fragenkatalogs.
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