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Portrait von Cordelia Bähr, LL.M. (LSE)

„Meine Motivation: Ich möchte unsere Zukunftsfähigkeit stärken.“

Cordelia Bähr, lic. iur., LL.M. (LSE), Rechtsanwältin, Partnerin bei bähr´ettwein in Zürich, im Interview über den Fall der KlimaSeniorinnen und strategische Prozessführung.

Frau Bähr, Sie sind Anwältin der KlimaSeniorinnen, die kürzlich ein positives wegweisendes Urteil erstritten haben. Herzlichen Glückwunsch! Was ist das Besondere an diesem Urteil?

Das Besondere ist, dass erstmals ein internationales Gericht festgestellt hat, dass Menschenrechte im Kontext der Klimakrise rechtlich relevant sind. Es gibt ein Menschenrecht darauf, vor den negativen Auswirkungen der Klimakrise geschützt zu werden. Eine weitere Besonderheit ist, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Klagebefugnis des Vereins positiv beschieden hat. Im Gegensatz dazu wurden die Voraussetzungen für einzelne Personen sehr hoch gesetzt. Vor dem Hintergrund, dass es völlig klar ist, dass der Klimawandel existiert und Menschen in ihrer Lebensqualität beeinträchtigt, wollte man damit wahrscheinlich eine Klageflut vermeiden. In diesem Spannungsverhältnis hat das Gericht versucht eine Lösung zu finden, die den Zugang zum Recht wahrt.

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Sie haben den Fall der KlimaSeniorinnen entwickelt. Wie sind Sie dabei vorgegangen?​

Wir haben im Jahr 2015 eine Anfrage von Greenpeace erhalten. Wir sollten gutachterlich bewerten, wie wir die Schweiz rechtlich zu mehr Klimaschutz verpflichten können. Anlass dafür war die Entscheidung Urgenda Foundation v. Niederlande. Ich habe mir dann überlegt, was die materiellen Inhalte einer Klage sein könnten: Welche Menschenrechte könnten durch die Folgen der Klimakrise betroffen sein? Wie sind diese im schweizerischen Recht und in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert? Für mich lag aber schon länger auf der Hand, dass sich die Klimakrise auf die menschliche Gesundheit negativ auswirkt und dem Staat dahingehend eine Schutzpflicht zukommen muss. Und es war klar, dass die Schweiz diese Schutzpflicht nicht erfüllt. Denn es bestand eine klare Lücke zwischen den bereits 2007 für entwickelte Länder modellierten Emissionsreduktionswegen des Weltklimarates und der tatsächlichen Reduzierung, die die Schweiz angestrebt hat.

 

Der Knackpunkt war namentlich prozessualer Art, da wir in der Schweiz keine Verfassungsgerichtsbarkeit kennen. Wie geht man dann vor? Ich bin auf die Idee gekommen, das verwaltungsinterne Vorverfahren der Gesetzgebung als Realakt zu qualifizieren und die dortigen Unterlassungen gerichtlich angreifen. Daran anschließend musste ich die Fragen untersuchen, wer heute von den negativen Auswirkungen der Klimaerwärmung besonders betroffen und deshalb befugt zu einem solchen Vorgehen sein könnte. Dafür habe ich viel recherchiert und bin auf Studien zur Hitzewelle im Jahr 2003 gestoßen: Es gab damals mehr als 70.000 Hitzetote in Europa, insbesondere waren ältere Frauen betroffen. Damit war die Idee geboren, dass ältere Frauen besonders betroffen sind und ihr Recht auf Schutz ihres Lebens und ihrer Gesundheit einfordern könnten.

 

Die Klage wurde schließlich darauf ausgerichtet, dass die Bundesverwaltung ein neues Gesetzgebungsverfahren mit ausreichenden Klimaschutzzielen einleiten soll.

Welche rechtlichen Herausforderungen sind Ihnen im Fall der KlimaSeniorinnen begegnet?

Wenn ältere Menschen im Rahmen einer strategischen Prozessführung den Rechtsweg beschreiten, folgt daraus prozessual das Risiko, dass diese Menschen während des Verfahrens sterben könnten, weil Gerichtsverfahren sehr lange dauern. An einem Samstagmorgen bin ich im Halbschlaf auf die Idee gekommen, dass wir einen Betroffenenverein brauchen, der unabhängig ist vom Ein- und Austritt der Mitglieder. Zusätzlich haben sich vier Einzelklägerinnen dem Rechtsweg angeschlossen, und so waren alle Varianten der Klagebefugnis abgedeckt. Daneben war – wie oben erwähnt – auch das schweizerische Rechtssystem eine Herausforderung, weil es keine Verfassungsgerichtsbarkeit gibt.

 

Materiell-rechtlich haben wir auf schweizerischer Ebene stark mit der Bundesverfassung, aber von Anfang an auch mit der EMRK argumentiert. Das Argument blieb vom ersten Tag bis zum Schluss immer das Gleiche. Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sind wir natürlich vermehrt auf spezifische Aspekte der EMRK eingegangen.

Begonnen haben Sie Ihre juristische Karriere in einer Wirtschaftskanzlei. Was hat Sie dazu bewogen, fachlich die Richtung zu wechseln?

Die wachsende Erkenntnis über die Probleme, die die Klimakrise verursacht, hat dazu geführt, mich fachlich neu auszurichten. Mich fasziniert am Klimaschutzrecht, dass sich sowohl die Klimakrise als auch die rechtliche Regulierung auf alle Lebensbereiche – natürlich in unterschiedlicher Intensität – auswirkt. Alles und alle sind betroffen. 

 

Dabei stellen sich interessante gesellschaftliche Fragen: Warum tun wir nicht mehr, obwohl wir wissen, dass die Klimakrise stattfindet? Diese Diskrepanz zwischen Wissen und Handeln finde ich gleichermaßen erschütternd und spannend.

Sie haben einen LL.M. an der London School of Economics and Political Science im Bereich Umwelt- und Menschenrechte absolviert. Wie haben Sie davon beruflich profitiert?

Ich hatte inspirierende Professor*innen und habe viele Kurse zu menschen- und umweltrechtlichen Themen belegt. Während des LL.M. habe ich eine Masterarbeit über die Gründe für das Nichtvorhandensein einer Treibhausgassteuer auf Fleischprodukte geschrieben. Dieser Thematik bin ich politisch, soziologisch, rechtlich und psychologisch auf den Grund gegangen und das fand ich extrem spannend. Auch dank dieser Arbeit erhielt ich im Anschluss an den LL.M. im Jahr 2013 beim Bundesamt für Umwelt eine der wenigen Stellen im Klimabereich und beriet die Klimaabteilung rechtlich.

Sie arbeiten als selbstständige Anwältin im Bereich Umwelt- und Menschenrechte. Wie haben Sie entschieden, welche Mandant*innen Sie vertreten möchten?

 

Für mich war aufgrund meiner persönlichen Interessen und Wertvorstellungen rasch klar, dass ich meine Dienstleistungen für Anliegen anbiete, die der Umwelt und/oder dem Menschen zugute kommen. Für mich war also klar, für welche Seite ich grundsätzlich arbeiten möchte. Und wenn ich an einem Tag für Betroffene Klimaklagen entwerfe, dann kann ich nicht ohne weiteres am nächsten Tag einen Carbon Major und dessen ungenügende Klimastrategie vertreten. Diese grundsätzliche Positionierung ist keine Spezialität im Bereich des Klimaschutzrechts, sondern zum Beispiel ist es auch im Arbeitsrecht so, dass man grundsätzlich entweder Arbeitgeber*innen oder Arbeitnehmer*innen vertritt. Ich denke, es ist eine Herzensentscheidung, man muss sich fragen: Ist es mir wichtig, viel Geld zu verdienen? Will ich Menschen helfen? Will ich mich für eine intakte Umwelt einsetzen? Will ich zum Beispiel lieber M&A machen oder zieht es mich in Richtung strategische Prozessführung? Mich zog es beruflich dorthin, wo es mit meinen eigenen Überzeugungen übereinstimmt.

Wie unterscheidet sich die Tätigkeit einer Anwältin im Bereich Klimaschutzrecht zu anderen klassischen Rechtsgebieten? 

Klimaschutzrecht unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von traditionellen Rechtsgebieten. Gerade Klimaklagen leben von den Erkenntnissen der Klimawissenschaft. Es gehört zur Arbeit als Anwältin dazu, dass man z.B. die Berichte des Weltklimarates liest, versteht und einordnen kann. Ich muss imstande sein, dem Gericht die Klimawissenschaft zu vermitteln; diese also für Jurist*innen verständlich zu machen. Es handelt sich dabei um sehr komplexe Themen. Obwohl ich mich schon seit zwölf Jahren mit diesem Bereich beschäftige, muss ich mich dennoch immer wieder in neue Themen einarbeiten. 

 

Man muss auch eine gewisse Demut mitbringen. Damit meine ich, dass man sich mit Expert*innen austauscht und mit diesen zusammenarbeitet. Besonders an strategischer Prozessführung ist auch, dass man die Kommunikationsarbeit stets mitdenken muss. Beispielsweise kam mit der Bekanntheit des Falls der KlimaSeniorinnen auch ein gesteigertes Medieninteresse auf. Und auf einmal hatte ich die Aufgabe, vor und mit allen möglichen Menschen zu sprechen und der Öffentlichkeit den Fall zu erklären. Medienarbeit spielt eigentlich keine Rolle in der normalen anwaltlichen Tätigkeit; im Gegenteil, man ist an das Anwaltsgeheimnis gebunden. Daran musste ich mich erst gewöhnen.

Andererseits ist auch außergewöhnlich, dass man in großen Teams und mit NGOs zusammenarbeitet. Normalerweise schreibt man Schriftsätze, die Mandantschaft segnet sie ab und dann reicht man sie bei Gericht ein. In strategischen Klagen gibt es seitens der Mandantschaft oft zahlreiche Menschen, die in den Review-Prozess eingebunden sind und auch aktiv mitarbeiten. Das bedeutet auch, dass man viel Unterstützung aus der Perspektive der Mandantschaft bekommt.

Können Sie erklären, was Sie unter strategischer Prozessführung verstehen? 

Bei strategischer Prozessführung geht es darum, durch Klagen größere strukturelle Veränderungen herbeizuführen. Dabei muss man sorgfältig auswählen, wer Kläger*in ist, das heißt, wer die Voraussetzungen der Klagebefugnis erfüllen könnte und welche Klage in prozessualer und materieller Hinsicht die größten Erfolgschancen hat. Dabei kann man unterschiedlich vorgehen: Strategisch kann sein, wie bei den KlimaSeniorinnen Präzedenzfälle grundsätzlicher Art zu erstreiten und so einen Mehrwert für viele Menschen zu schaffen. Strategisch kann auch sein, anhand geeigneter Fälle einzelne rechtliche Anwendungsfragen zu adressieren, die unklar sind und zu denen es noch keine Grundsatzentscheidung gibt. 

Wann kann man davon sprechen, dass strategische Prozessführung „erfolgreich“ ist? 

Das einfachste Kriterium für Erfolg ist, ob man den Fall vor Gericht gewinnt oder verliert. Gewinnen alleine hilft aber im Klimabereich nicht, wenn nicht auch im Anschluss zusätzlich Emissionen reduziert werden. Nehmen wir das Beispiel der KlimaSeniorinnen: Bis jetzt haben wir wohl noch kaum zusätzliche Emissionsreduktionen erreicht. Wir müssen immer noch dafür kämpfen, dass es tatsächlich zu weiteren Emissionsreduktionen kommt und die schweizerischen Gesetze angepasst werden. Wir werden genau beobachten, ob die Schweiz das Urteil umsetzt. 

 

Gewinnen heißt aber auch, die nötige Aufmerksamkeit für ein bestimmtes Thema oder Problem zu generieren. Zum Beispiel haben wir durch den Fall der KlimaSeniorinnen auch ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass ältere Menschen besonders unter den Auswirkungen der Klimakrise – besonders heiße Sommer – leiden. Wenn es älteren Menschen im Sommer nicht gut geht, dann wissen sie, dass sie damit nicht alleine sind und schützen sich dadurch vielleicht auch besser. Und auch die Gesellschaft weiß jetzt, dass die Folgen der Klimakrise nicht nur Menschen weit weg betreffen, sondern auch uns hier in Europa. Wenn das in den Köpfen der Menschen ankommt, ist das ein Gewinn und kann sie motivieren, sich selbst zu engagieren.

Welche Rolle spielt strategische Prozessführung in der europäischen bzw. internationalen Rechtslandschaft? 

Im Vergleich zu herkömmlichen Verfahren stellen strategische Verfahren eine überschaubare Anzahl dar. Tendenziell steigt diese Zahl von Fällen an. Strategische Verfahren haben eine sehr wichtige Rolle inne, weil sie auf potentiell große Veränderungen ausgerichtet sind und grundsätzliche Fragen behandeln. Der Vorteil gegenüber der Politik ist, dass Gerichte geltend gemachte Rechtsverletzungen faktenbasiert und unabhängig, d.h. nur dem Recht verpflichtet, beurteilen. Wenn ich als Beweis einen Bericht des Weltklimarats einreiche, dann kann ich davon ausgehen, dass die relevanten Stellen gelesen und die Fakten gehört werden. Politik funktioniert anders, Politiker*innen haben eine ganz andere Aufgabe und Perspektive. Relevant ist auch, dass sich Richter*innen (z.B. des EGMR) im Gegensatz zu Politiker*innen nicht zur Wiederwahl stellen müssen. 

 

Zukünftige Generationen haben keine Vertretung in den heutigen Parlamenten. Durch die heutige politische Untätigkeit werden aber Menschenrechte zukünftiger Generationen verletzt. Gerichte können potentielle Rechtsverletzungen an künftigen Generationen demgegenüber nicht einfach ignorieren. 

 
Welchen Rat würden Sie Jurist*innen geben, die sich beruflich dem Klimaschutzrecht widmen möchten? 

Das ist im Prinzip nicht anders als bei Spezialisierungen in anderen Bereichen. Es geht darum, sich in Theorie und Praxis das notwendige Fachwissen anzueignen. Im Klimaschutzrecht kommt meistens die Auseinandersetzung mit klimawissenschaftlichen Aspekten hinzu. Zudem kann man sich überlegen, welcher Bereich des Klimarechts einen besonders interessiert. Klimaschutz ist ja eine eigentliche Querschnittsaufgabe und nicht alleine auf die Klimaschutzgesetzgebung im eigentlichen Sinne beschränkt. Dem Klimarecht im weiteren Sinne kann man sich z.B. auch im Finanzmarkt-, Energie-, Haftungs- oder Strafrecht widmen.

Wenn man sich beruflich mit der Klimakrise auseinandersetzt, kann das nicht nur eine juristische, sondern auch eine emotionale Herausforderung sein. Wie gehen Sie damit um? 

Richtig ist, dass man über die Klimakrise gut informiert ist und dieses Wissen natürlich auch ins Privatleben mitnimmt. Das kann emotional belastend sein. Gleichzeitig ist allgemein bekannt, dass es hilft, sich aktiv zu engagieren. Meine Möglichkeiten als Klimaanwältin sind da vergleichsweise groß. 

Welche Juristin hat Sie so inspiriert, dass sie als Vorbild für breaking.through nominiert werden sollte? Wieso? 

Veerle Heyvaert, Professorin an der London School of Economics and Political Science, hat mich sehr inspiriert. Sie hat meine vorhandene Begeisterung für Umwelt- und Klimarecht nochmal so verstärken können, dass ich mein Berufsleben darauf ausgerichtet habe. Viele, die ihre Kurse besucht haben, sind jetzt in diesen Bereichen berufstätig. 

Vielen Dank für das spannende Interview!

 

Berlin / Zürich, 28. Mai 2024. Das Interview führte Dr. Jennifer Seyderhelm.

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