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Dr. Gisela Wild im Porträt

„Verteidigt die Freiheiten, die wir errungen haben und baut sie aus!“

Dr. Gisela Wild über ihre Studienjahre an der Universität Freiburg als eine von sehr wenigen weiblichen Jurastudentinnen, ihren steilen Aufstieg als Presserechtlerin in der Hamburger Kanzleilandschaft und wie sie schon in den 60er-Jahren das Home-Office etablierte, um sich um ihren Sohn kümmern zu können.

Liebe Frau Wild, Sie waren die erste weibliche Partnerin der heutigen Kanzlei Taylor Wessing und Sie haben namhafte Prozesse im Kampf um die Gleichberechtigung der Geschlechter, aber auch den Datenschutz geführt. Heute sind Sie 91 Jahre alt und Ruhestand scheint für Sie ein Fremdwort zu sein. Woher nehmen Sie all die Energie?

Die Energie war schon immer da und hört glücklicherweise noch nicht ganz auf. Ich war früher deutlich aktiver. Vielleicht habe ich einen gewissen Führungsdrang, weil ich die Älteste von vier Kindern – zwei Mädchen und zwei Jungen – bin. Für meine kleinen Geschwister war ich die Anführerin und Beschützerin, da wächst man in Führung und Organisation gewissermaßen hinein (lacht). Mein älterer Bruder hielt mir über Jahre vor, er habe in dem von meinem Vater angeordneten Abspülteam nach dem Essen (jeweils ein Mädchen und ein Junge) nie abwaschen dürfen, immer nur abtrocknen. Ich hätte damit das Tempo bestimmt und sei früher fertig gewesen. Dass ich ihm dann auch geholfen habe, blieb unberücksichtigt. Während der Jahre der Flucht vor den Russen und der Vertreibung aus Schlesien (1944-1946) bewährte sich mein jugendliches, recht unerschrockenes Naturell. Zwei Jahre ohne feste Wohnung, ohne Schule, ständig in Sorge um Nahrung und Sicherheit: Meiner Mutter war ich Gefährtin und Vertraute, mir und meinen Geschwistern eine Art „Ronja Räubertochter“. Nach der Rückkehr meines Vaters aus der Kriegsgefangenschaft begann für die Familie 1947 wieder das normale Leben.

Sie haben in den 50er Jahren in Freiburg Jura studiert. Wie sind Sie zum Jurastudium gekommen?

Durch den Rat und Zuspruch meines Vaters. Er sprach schon zu meiner Schulzeit von seiner „Kronjuristin“ und animierte mich zum Jurastudium. Es war das Ziel, das er selbst nicht erreicht hatte. Als Finanzbeamter mittleren gehobenen Dienstes sollten nun alle vier Kinder studieren. Drei haben diesen Plan erfüllt; meine Schwester ging mit der mittleren Reife ab und wurde Postbeamtin. Als sie heiratete, wirkte die geltende Zölibatsklausel. Sie musste gehen und wurde Hausfrau und Mutter, wie es dem Frauenbild der Zeit entsprach. Für mich kam ein solches Leben nicht in Betracht, auf keinen Fall. Ohne Beruf, ohne eigenes Geld, unselbständig, abhängig: undenkbar.

Ich hätte gern ein naturwissenschaftliches Studium aufgenommen; Naturwissenschaften waren meine besten Schulfächer. Aber das hätte die doppelte Studienzeit gekostet, mindestens, eher mehr. Zum Studium musste ich eigenes Geld verdienen, vor Beginn und während der Semesterferien. Laut einem Gehaltszettel verdiente mein Vater im Juni 1953 mit Zuschlag für drei Kinder abzüglich Steuern 811,02 DM. Da gab es für mich gelegentlich einen Kuchen oder ein Leckerli von Zuhause. Mein monatliches Budget betrug während der Studienzeit 100 DM, davon 30 DM Miete. Mit dem Jurastudium wollte ich meine Eltern entlasten und mir Freiraum schaffen. Ich hatte inzwischen selbst erkannt, dass Jura ein großartiges Fach mit vielen Möglichkeiten ist, und noch weitgehend ohne Frauen. Ich entschloss mich, es zu entdecken.

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​Wie war es in den 50er-Jahren als eine von sehr wenigen Frauen Jura zu studieren?​

Als ich im November 1952 erstmals das Hauptgebäude der Universität Freiburg betrat, um das Studium zu beginnen, sah ich zunächst nur Männer bei der Begrüßung der Erstsemester. Zwei oder drei Frauen mögen darunter gewesen sein, ich erinnere ihrer nicht. Auch in den juristischen Vorlesungen und Seminaren waren Frauen während meines Studiums äußerst rar, kaum fünf Prozent. Zu zwei Studentinnen des ersten Semesters fand ich schnell Kontakt, Sigrid aus Hannover und Evemi aus Köln. Evemis Freund studierte im fünften oder sechsten Semester Jura. Die beiden kannten sich aus der Schulzeit. Sie war ihm nach Freiburg gefolgt. Er hatte den Ehrgeiz, sie in die Rechtswissenschaft einzuführen. Als wir drei Frauen uns enger zusammenschlossen, nahm er Sigrid und mich in seine Schulung auf. Drei Frauen, das schmückte ihn in der Fakultät und förderte uns Drei zugleich ungemein. Schon im ersten Semester erwarben wir den ersten Schein fürs erste Staatsexamen und in den zwei folgenden Semestern alle weiteren. So hatten wir einen Repetitor zur Seite, der uns beriet und anspornte. Im vierten Semester blieb ich zunächst allein. Meine Freunde waren zu ihren Heimatuniversitäten gezogen und absolvierten heimische Examen. Das war im Sommer 1954. Ich musste mich neu orientieren. Zu einer größeren, elitären Hamburger Gruppe mit – ich meine – zwei Frauen, fand ich keinen Zugang. Etwa in der Mitte des Semesters sprach mich dann aber eine Kommilitonin aus Heidelberg an, Hildegard. Sie und ihr Freund Edi aus Karlsruhe meinten, ich sollte Gesellschaft haben. Wie wäre am nächsten Wochenende ein gemeinsamer Ausflug mit einem Bekannten, den sie an der Uni Heidelberg kennengelernt hatten? Den Vorschlag nahm ich gern an. Bei schönstem Sommerwetter tummelten wir uns im Schwimmbad Kirchzarten am Eingang des Höllentals und diskutierten über Gott und die Welt. Der gemeinsame Ausflug endete um Mitternacht in Edis Studentenbude. Der Kommilitone aus Heidelberg fuhr mich auf seinem Fahrrad nach Haus. Das war die erste Begegnung mit meinem künftigen Ehemann und der Beginn einer wunderbaren, streitlustigen Freundschaft zu Viert. Das Grundgesetz, die Verfassung für die junge deutsche demokratische Bundesrepublik, gab uns reichlich Stoff. Insbesondere die Gleichberechtigung von Mann und Frau und ihre Durchsetzung in der Praxis. Wir waren ja unmittelbar betroffen. Das tradierte Eherecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs mit der Vorherrschaft des Mannes und der Entmündigung der verheirateten Frau hatte am 31. März 1953 seine Geltung verloren. Wie sollte das neue aussehen? Wir stimmten einmütig, so nicht! Aber wie dann?

Wir Vier waren zu jener Zeit nicht die Einzigen in der juristischen Fakultät Freiburg, die dort ihren Lebenspartner / ihre Lebenspartnerin fanden. Das Thema Gleichberechtigung war bei Studenten der juristischen Fakultät ein Reizthema, das die Gemüter bewegte. Soweit ich sehe, haben alle unsere Bekannten in Paar-Gemeinschaft das erste und zweite juristische Staatsexamen bestanden, geheiratet, Kinder bekommen und einen Beruf ausgeübt. Die männliche Oberhoheit hatten wir entsorgt.

Sie haben sich später auf Gewerblichen Rechtsschutz und Datenschutz spezialisiert, wie kam es dazu?

Nach Studium, Referendariat, Promotion und Zweitem Staatsexamen in Stuttgart suchte ich Eingang in den Beruf. 1960 war ich auf unbestimmte Dauer in Hamburg angekommen. Mein Mann hatte beim Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL eine attraktive Anstellung als Journalist erhalten. Von Hamburg kannte ich so gut wie nichts. Richterin wäre ich dort gern geworden. Das war aussichtslos aus zwei Gründen. Zum einen hatte ich kein Hamburger Staatsexamen, sondern nur eines aus Baden-Württemberg, es hieß damals ein „ausländisches“ Examen. Zweitens waren gerade zwei junge Richterinnen in den Justizdienst eingestellt worden (Lore Maria Peschel Gutzeit, später erste weibliche Erste Vorsitzende Richterin eines Senats am Hanseatischen Oberlandesgericht Hamburg, darauf Justizsenatorin in Hamburg und Berlin, dann Rechtsanwältin, und Dr. Katharina Johannsen später zeitgleich Erste Vorsitzende Richterin eines Senats am Hanseatischen OLG). Das schien auf Jahre genug zu sein (lacht)

 

Also bewarb ich mich als Rechtsanwältin bei mehreren größeren Hamburger Kanzleien. Das Ergebnis war deprimierend. Alle Besuche verliefen nach gleichem Muster. Nach scheinbar wohlwollendem Empfang folgte freundlich eine „bedauerliche“ Absage. Angesichts der optischen Büroausstattung verwunderte mich das nicht, und eigentlich war ich ganz froh über die Absagen. Denn die besuchten Kanzleien atmeten unverkennbar patriarchalisch. Die Atmosphäre empfand ich bedrückend und sehnte mich ins Badische zurück, wo es in Freiburg schon eine Anwaltskanzlei gab, die vier namhafte Juristinnen führten und mit großem Erfolg Wirtschaftsrecht vertraten.

 

Eines Tages traf ich einen Anwalt, der mich der Kanzlei Prof. Dr. Bussmann / Dr. Droste empfahl. Hier fiel mein Vorstellungsgespräch ganz anders aus, kurz gefasst: beglückend. Schon beim Betreten der Räume spürte ich das andere Klima: neugierig, unkompliziert, aufgeschlossen. Dr. Droste, auf den ich als Ersten traf, hörte sich meine Geschichte an und fragte kurz, ob ich wüsste, was Gewerblicher Rechtsschutz ist; die Kanzlei sei darauf spezialisiert. Als ich gestand, dass mir dieses Rechtsgebiet noch nicht bekannt sei, winkte er nicht etwa ab, sondern meinte: „Das macht nichts. Bleib gleich hier, in einem Monat wissen wir, ob wir zu einander passen.“ Ich war verblüfft. Zeugnisse interessierten ihn nicht. Sie blieben ungenutzt in meiner Tasche. Als der Professor erschien, sagte Droste: „Sie bleibt gleich hier“, worauf der Professor etwas verlegen darauf hinwies, man müsse doch die Partner fragen. Zu mir sagte er „Bis morgen ist das geklärt“, und am nächsten Tag war ich auf Probe angestellt. Ich platzte fast vor Glück. Das gibt’s doch nicht, dachte ich. Doch, auch das gab es in Hamburg – 1961.

 

Das Gehalt, ja das Gehalt lag unter dem bekannten Anfängerniveau. Der Professor begründete die geringe Höhe mit der notwendigen weiteren Ausbildung, die ich erhalten würde. Die Kanzlei gebe mir eine große Chance, mich zu entwickeln. Nähme ich sie wahr, würde sich das künftig sicher auch bei den Finanzen auswirken. Ich wurde nicht enttäuscht. Ich durfte mehr als zuarbeiten. Jeder Fall wurde ausführlich besprochen. An Terminen mit Mandanten nahm ich teil. Ich durfte nicht nur meine Meinung äußern, sondern wurde dazu herausgefordert. Rezensionen zu Entscheidungen des BGH und anderer Gerichte schrieb ich erst unter Anleitung und Namen meiner Lehrherren, bald unter eigenem. In den ersten Jahren meiner Tätigkeit wurde das deutsche Urheberrecht konzipiert und erarbeitet. 1965 trat das Gesetz in Kraft. Professor Bussmann hatte als Sachverständiger der Regierung daran mitgewirkt und mich in diese Arbeit eingebunden. Ich wurde darüber zur Urheberrechtlerin und bin es mit Vergnügen geblieben.

Sie sind 1970 als erste weibliche Partnerin in die Kanzlei Berenberg-Gossler, einer Vorläuferkanzlei der später zu Taylor Wessing fusionierten Kanzlei, aufgenommen worden. Heutzutage hat Taylor Wessing einen strukturierten Plan, wie man den „Partnertrack“ erklimmt. Wie kam es zu Ihrer Aufnahme?​

Die Kanzlei Berenberg-Gossler & Gleichenstein war, als ich ihre Bekanntschaft machte, eine ehrwürdige Hamburger Sozietät, gegründet von zwei Partnern im Jahr 1873. Sie beschäftigte sich vornehmlich mit Zivil- und Handelsrecht, nach dem zweiten Weltkrieg auch mit Wiedergutmachung, Mitbestimmung, Bankrecht. Dr. von Gleichenstein hatte die Idee, der Kanzlei durch Aufnahme weiterer Rechtsgebiete einen kräftigen Schub zu verleihen. Gewerblicher Rechtsschutz, Wettbewerbsrecht, Urheberrecht, Presse und Persönlichkeitsrecht lagen ihm im Sinn. Damit war ich inzwischen in Hamburg bekannt. Meine „Lehrkanzlei“ hatte mich 1966 in den Briefkopf aufgenommen, einige medienwirksame Prozesse kamen hinzu, zum Beispiel: Der Streit zwischen SPIEGEL Verlag und Gruner & Jahr um den Vorabdruck der Memoiren von Swetlana Stalin; das war 1967 mein erster erfolgreicher Pressefall mit öffentlicher Beachtung. Dr. von Gleichenstein sprach mich auf einer Party an und fragte, ob ich mir vorstellen könnte, in seiner Kanzlei die Sparte Gewerblicher Rechtsschutz und Verwandtes aufzubauen. Das gab mir Anlass, der gegenwärtigen Kanzlei die Sozietätsfrage zu stellen. Sie fiel zu meinem Bedauern negativ aus. Die jüngeren Partner waren dagegen. Dr. Droste riet mir, den Sprung in die Sozietät Berenberg-Gossler zu wagen. „Dort kannst Du beweisen, dass Dein Name Mandate zieht.“, meinte er. Darauf sagte ich der Kanzlei Bussmann schweren Herzens Adieu, dankte dem Professor und Dr. Droste für die erfüllten, lehrreichen Jahre und für ihre Zuneigung. Einige Mandanten gingen mit mir – eine Art Mitgift. Ab 1. Mai 1970 setzte ich meinen Beruf als Vollpartnerin der Sozietät Berenberg-Gossler & Partner fort. Auf dem Briefkopf standen die Partnernamen, mein Name nun eingefügt, darauf hatte ich bestanden. Heute ist Berenberg-Gossler & Partner die „Hamburger Betriebsstätte“ einer internationalen anwaltlichen Großsozietät mit entsprechend geänderten Regeln. Ich bin ihr weiter verbunden. Von Zeit zu Zeit mahne ich, die persönliche Nähe nicht über Bord zu werfen.

Sie haben mit 32 Jahren einen Sohn geboren und haben gleichwohl auch in der Folgezeit stets in Vollzeit als Rechtsanwältin gearbeitet. Wie haben Sie das damals gemanaged?​ 

Mein Mann übernahm Ende 1963 für das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL den Auf- und Ausbau des Außenpostens in Paris. Ich ging mit und bekam dort meinen Sohn. Den Wechsel zu bewältigen war schwieriger als gedacht. Mein Mann kämpfte um seine Anerkennung als politischer Korrespondent; ich bemühte mich um anwaltliche Tätigkeit. Bussmann und Droste hatten mir Empfehlungen mitgegeben. Mein Mann war durch Unterstützung prominenter französischer Kollegen bald erfolgreich. Ich fand Arbeit bei zwei jeweils selbständigen Anwälten, die europäisch ausgerichtet waren. Dort war ich mit Übersetzungen französischer und deutscher juristischer Texte befasst. Das geschah im Team mit einer französischen Anwältin, die gut Deutsch sprach. Es war eine spannende, lehrreiche Beschäftigung. 

 

Mit einem spanischen Au-pair-Mädchen hatte ich mir diese Berufsfreiheit geschaffen und für die Folgezeit ihre spanische Freundin gewonnen, Hausarbeit und Kinderpflege bei uns zu übernehmen. Sie war 30 Jahre alt, gebildet, erfahren, liebenswürdig und kinderlieb, kurzum ein Schatz, der mir ermöglichte, mit meinem Mann Frankreich zu erkunden. Wenn sie bei uns geblieben wäre, hätte ich vielleicht noch mehrere Kinder bekommen (lacht). Als wir nach Hamburg zurückkehrten, fand sie ihren Mann; ich musste sie leider gehen lassen.

 

In Hamburg war die Kinderbetreuung ein großes Problem. Es gab keine Krippen und nur ganz wenige Kitas. Um in Vollzeit außer Haus zu arbeiten, bedurfte es zwingend eines Kindermädchens, das bei uns wohnte. Das kostete mit allen steuerlichen und sozialen Abgaben mein Gehalt, das ich als Vollzeit arbeitende Anwältin verdiente. Das veranlasste mich zu meiner ersten Verfassungsbeschwerde, der steuerlichen Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten. Der Bundesfinanzhof in München, die höchste Instanz für Steuerverfahren, lehnte den Anspruch mit der Begründung ab, Kinder seien Privatsache, ihre Betreuung sei mütterliche Pflicht. Das Bundesverfassungsgericht blieb bei dieser Begründung, sprach aber immerhin den Pauschbetrag für Sonderausgaben bei zwei und mehr Kindern auch für ein Kind zu. Das traditionelle Rollenbild der Frau und Mutter des 19. Jahrhunderts, die unbezahlt für Haushalt und Kinder zu sorgen hatte, saß in den Köpfen der Richter damals noch sehr fest. Dennoch war das Verfahren ein Meilenstein bei der Durchsetzung der Gleichberechtigung. Das vom Urteilsspruch abweichende, sorgsam begründete Votum der Verfassungsrichterin Wiltraut Rupp-von Brünneck brach der Erkenntnis Bahn, dass auch Frauen ein Recht auf eigene Arbeit außer Haus haben und somit Kosten für ein Kindermädchen zur Wahrnehmung der Arbeit berufsbedingte Kosten bedeuten, die steuerlich absetzbar sind wie Blumen zum Schmuck des Büros. 

 

Für mich war selbstverständlich, dass ich auch mit Kind bei Bussmann / Droste in Vollzeit arbeitete, hatte aber vereinbart, jeden Tag um 16 Uhr das Büro zu verlassen, um Zeit für meinen Sohn zu haben. In den Abendstunden nahm ich erneut Anwaltsarbeit auf. Mein Sohn konnte mich sprechen, wann immer er das Bedürfnis hatte. Das ganze Büro richtete sich danach. Eine Art „Teil-Home-Office“.

Eigentlich ein total modernes Modell, das sich kaum von heute unterscheidet! In Vollzeit arbeitende Mütter in der Anwaltschaft sind aber selbst heutzutage noch sehr selten und selbst in Teilzeit arbeitende Frauen fühlen sich zwischen ihren beruflichen und familiären Verpflichtungen oft in belastendem Ausmaß hin- und hergerissen. Was machen wir falsch?​ 

Das muss man wahrscheinlich individuell beurteilen. Wenn man im Beruf gemocht und gefördert wird, ist es schon einmal etwas ganz anderes, als sich erst durchsetzen und beweisen zu müssen. Hat der Arbeitgeber die Stärken seiner Mitarbeiterin erkannt und will sie halten, wird er in eigenem Interesse ihren Vorstellungen folgen oder einen Kompromiss suchen. So ist jedenfalls meine Erfahrung. Das gelingt umso leichter, wenn die Frau ihren Beruf mit Leidenschaft ausübt und nicht als Belastung empfindet. Wenn sich Frauen im Beruf unwohl fühlen, stimmt etwas nicht. Dann geben sie dem einen oder anderen Interesse vielleicht mehr Raum, als ihnen lieb ist. Frauen, die ihre Mutterrolle als Berufung verstehen, werden sich ihrem Kind oder ihren Kindern ganz widmen und auf ihren Beruf verzichten. Ich habe Zweifel daran, dass das ein zufriedenstellendes Modell ist. Die Kinder verlassen bald das Haus und das Leben kann lang sein. Mein Sohn sagte eines Tages zu mir: „Du musst mich nicht jeden Tag abholen; ich kann allein nach Hause kommen.“ Da wusste ich, dass er den nächsten Entwicklungsschritt gemacht hatte.

Wie erklären Sie sich, dass heutzutage – trotz deutlich ausgebauter Kinderbetreuungsmöglichkeiten und einer ausgeglichenen Anzahl von weiblichen und männlichen Juraabsolventen – immer noch nur ungefähr 10 % der Partnerschaft in einer Großkanzlei Frauen sind?

 

Vielleicht liegt es daran, dass die Größe erschreckt, die bisherige männliche Übermacht, die Bürokratie der Menge, der Druck der geforderten und gemessenen Leistungen, die mangelnde Gemeinschaft „Einer für Alle, Alle für Einen“, die verlorene emotionale Berührung. Fragen wir doch einmal die Frauen!

 

Fragen wir aber auch die Kanzleien. Wo sind gangbare Wege? Kinderbetreuung und Teilzeitarbeit sind heute möglich. Die Kinderzeit ist absehbar. Sie ist organisatorisch überbrückbar. Wenn die Kanzleien deutlicher signalisieren würden, dass sie Frauen beruflich auch mit Kindern Wert schätzen, dann wäre das ein richtiger Schritt in die richtige Richtung. Dr. Droste schrieb mir nach zwei Jahren Trennung nach Frankreich: „Wann kommt Ihr denn endlich zurück? Wir brauchen Dich sehr."

Ihre Ansichten klingen, als seien Sie bereits Ihrer Zeit voraus gewesen. Welche Rolle hatte Ihr Mann im Haushalt und bei der Kinderbetreuung und -erziehung?

Mein Mann und ich hatten eine Beziehung auf Augenhöhe. Wir verstanden sie als funktionale Arbeitsteilung. Er war Chef des Auslandsressorts im SPIEGEL. Da konnte ich nicht erwarten, dass er um 18 Uhr nach Hause kommt, das Abendessen bereitet und das Kind ins Bett bringt. Zu dieser Uhrzeit ist an der Ostküste der USA Hochzeit der politischen wie journalistischen Kommunikation. Also verblieb in der Woche die Betreuung bei unserer Kinderfrau und bei mir. Ich hatte mir dazu, wie gesagt, in der Kanzlei Freiraum geschaffen. Am Wochenende widmete sich vornehmlich mein Mann unserem Sohn auf unterschiedliche Weise, die ich hier nicht erzählen kann, weil es lange Geschichten wären. Zum Beispiel ging er mit ihm reiten, ins Kino, Theater, Konzert- und Museumsbesuche, aber sie unternahmen auch Fahrradtouren, gingen zum Schwimmen, besprachen Hausaufgaben, erzählten sich Geschichten, lasen gemeinsam Bücher und Zeitschriften, arbeiteten gemeinsam im Garten, bauten ein Baumhaus, reparierten Dinge, spielten mit der elektrischen Legobahn etc. Er war ein großartiger Vater.

Heutzutage steht die Gleichstellung der Geschlechter groß auf der politischen Agenda. Stehen Sie allen Bestrebungen positiv gegenüber oder gibt es welche, die Sie für sinnlos oder weniger zielführend halten?

Das Thema Homosexualität sehe ich in Deutschland so gut wie gelöst, seit gleichgeschlechtliche Ehen gestattet sind und eingegangen werden. Zu Transgender-Fragen kann ich nichts sagen, weil ich nicht hinreichend informiert bin und keine Transgender-Personen kenne. Alles was die essenzielle Gleichstellung von Menschen betrifft, halte ich für sehr wichtig.

 

Ich bin hingegen keine große Freundin davon, die Sprache durch „gendern“ zu verhunzen. Die Notwendigkeit habe ich bis heute nicht eingesehen. Ich war ganz überrascht zu hören, dass ich im generischen Maskulin Zeit meines Lebens nicht mitgemeint sein sollte (lacht)

 

Bei der Frauenquote habe ich eine Zeit lang die Meinung vertreten, dass sie nicht notwendig ist. Jede Frau, die in ihrem Beruf lebt, will aus sachlichen Gründen berufen werden, nicht allein wegen ihrer Existenz als Frau. Deshalb lehnen nach meiner Erfahrung gerade fachlich besonders qualifizierte Frauen die Quote ab. Ihr haftet ein Ruch von Zweitklassigkeit an. Doch in manchen Bereichen wirken immer noch die aus dem 19. Jahrhundert tradierten Rollenbilder, die Frauen diskriminieren und die Gleichberechtigung versagen. So lange die Parität beider Geschlechter in der Praxis nicht durchgesetzt ist, bedarf es deshalb meines jetzigen Erachtens der Quote. Ist sie erreicht, erledigt sich das Thema von selbst.

Neben der Gleichberechtigung der Geschlechter setzen Sie sich auch seit jeher leidenschaftlich für den Datenschutz ein. Ihnen und Ihrer Kollegin Maja Stadler-Euler verdanken wir das im Rahmen ihrer Verfassungsbeschwerde gegen die Volkszählung erschaffene „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“. Was bedeutet dieses Grundrecht heutzutage für Sie?

Das „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“ besagt, dass das auf Artikel 2 Abs.1 GG beruhende Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit in Verbindung mit Artikel 1 Abs. 1 GG, der Unantastbarkeit der Menschenwürde, nicht allein im Bereich analoger Betrachtung und Wertung gilt, sondern gleichermaßen in digitaler Dimension. Dabei sind im digitalen Bereich bei Betrachtung und Wertung der Gefahren zum Schutz zusätzlich die durch die Digitalisierung bedingten Gefahren zu beachten und zu bewerten. Das sind die nahezu unbegrenzten technischen Möglichkeiten der Erhebung, Speicherung und Verwendung, die dem einzeln Betroffenen meist verborgen bleiben, und die bislang ungeahnten Geschwindigkeiten. Die durch die Digitalisierung erhöhte Gefährdung der Verletzung des Rechts, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und die Verwendung persönlicher Daten zu bestimmen, erfordert im digitalen Bereich mithin erhöhten Schutz. Das wird vom Bundesverfassungsgericht mit dem Namen klar gemacht und gefordert. 

 

Durch die heutigen neuen Techniken drohen dem Recht auf informelle Selbstbestimmung große Gefahren. Alle vorhandenen und künftigen Register der öffentlichen Verwaltung mit personenbezogenen Daten sollen gemäß dem am 26. März 2021 verkündeten Registermodernisierungsgesetz mittels Einführung und Verwendung einer jeder Person immanenten Identifikationsnummer vernetzt und verwaltet werden. Derzeit wird dafür die für jede Person festgesetzte Steuer-Identifikationsnummer eingesetzt. Die Verwaltung soll durch die Digitalisierung schneller und bürgerfreundlicher werden, was ich bei den Vorschriften dieses Gesetzes allerdings bezweifele. Festzustellen ist jedenfalls ein totaler Paradigmenwechsel gegenüber dem Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts, das die Vernetzung nur bei gleicher Zweckbindung oder persönlicher Zustimmung gestattet. Eine Stellungnahme des Bundesverfassungsgerichts zu dem Gesetz ist somit dringend erforderlich. Hinzu kommt in jüngster Zeit die Problematik der Künstlichen Intelligenz. Selbst maßgebende Experten und Erfinder der KI äußern mittlerweile Bedenken und fordern Regeln und Schritte zur Eindämmung. Personenbezogene Daten können sich mithilfe der KI quasi verselbständigen und der damit potenziell anrichtbare Schaden ist noch überhaupt nicht absehbar.

Welchen Rat geben Sie den jungen Juristinnen von heute, die deutlich mehr Freiheiten genießen als zu Ihrer Zeit?

Auch wenn wir als Frauen damals rechtlich betrachtet gewisse Freiheitseinschränkungen hatten, habe ich mich immer frei gefühlt. Mit der digitalisierten Welt und jetzt insbesondere auch der KI wird sich das gesamte Leben wesentlich verändern, wenn nicht gar total. Deshalb mein Rat: Wählt einen Beruf, der Eurem Wesen und Euren Fähigkeiten entspricht! Habt Acht! Lernt so viel Ihr nur lernen könnt! Was Ihr im Kopf habt, tragt Ihr immer bei Euch. Das kann Euch niemand nehmen. Verteidigt die Freiheiten, die wir errungen haben und baut sie aus! Setzt sie in die digitale Welt um, ohne Euch zu Robotergehilfen degradieren zu lassen! Bewahrt und bewacht Eure Gedanken und Gefühle, damit die rechtlich abgesicherten Freiheiten nicht der faktischen digitalen Realität zum Opfer fallen.

 

Welche Juristin hat Sie so inspiriert, dass sie als Vorbild für breaking.through nominiert werden sollte? Wieso?

Zwei Juristinnen, die ich nennen kann, sind schon im breaking.through-Programm vorhanden, Lore Maria Peschel-Gutzeit, engagierte Familienrichterin, Hamburger und Berliner Justizsenatorin, Rechtsanwältin, leider verstorben, und meine Freundin Maja Stadler-Euler, Politikerin und erste weibliche Fraktionsvorsitzende in einem deutschen Parlament, dann wie ich Rechtsanwältin und Sozia bei Berenberg-Gossler und Taylor Wessing. Nennen möchte ich noch Dr. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die liberale FDP-Politikerin, die für Freiheit und Fortschritt kämpfte und den anlasslosen Lauschangriff abwehrte. Sie bleibt sich und ihrer der liberalen Gesinnung auch nach ihrer Amtszeit als Bundesjustizministerin treu. 

 

Unvergessen leuchtet als Vorbild Dr. Elisabeth Selbert (gest. 1986), Rechtsanwältin und Mitglied des Parlamentarischen Rats, derer unermüdlichem Einsatz zu verdanken ist, dass im Grundgesetz Artikel 3 Abs. 1 der eherne Satz steht „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“ und in Abs. 2 die Präzisierung „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ sowie die Absicherung durch Artikel 117 Abs. 1 GG „Das dem Artikel 3 Absatz 2 entgegenstehende Recht bleibt bis zu seiner Anpassung an diese Bestimmung des Grundgesetzes in Kraft; jedoch nicht länger als bis zum 31. März 1953“. Ohne diese Fristsetzung würde wohl noch immer grundsätzlich um die Gleichberechtigung gerungen, wie manche Beispiele vermuten und befürchten lassen.

Vielen Dank für das spannende Interview!

 

Hamburg, 9. November 2023. Das Interview führte Dr. Graziana Kastl-Riemann.

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