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Jacqueline Ahmadi im Porträt

„Ein Angriff auf Menschenrechte betrifft jeden Menschen.”

 

Jacqueline Ahmadi, selbstständige Strafverteidigerin in Hamburg, über ihre Flucht aus Afghanistan nach Deutschland, ihren Weg von der Festanstellung in die Selbstständigkeit und ihr Engagement für Menschenrechte.

Frau Ahmadi, Sie sind selbstständige Strafverteidigerin in Hamburg. Wie sieht Ihr Alltag als Rechtsanwältin aus?

Mein Alltag ist bereits Wochen im Voraus durchgeplant. Er ist geprägt von Gerichtsterminen, Besuchen in der Untersuchungshaftanstalt, Gesprächen mit Mandant*innen, diversen Telefonaten sowie dem Verfassen von Schriftsätzen. Trotz all dieser Planung gibt es oft Überraschungen. So kommen beispielsweise Mandant*innen spontan bei uns in der Kanzlei vorbei oder das Gericht meldet sich mit einem neuen Pflichtverteidigungsmandat bzw. einer Haftvorführung. Das stellt natürlich die bisherige Wochenplanung auf den Kopf. Im besten Fall schaffen wir es, für solche Fälle bereits im Voraus „Pufferzeiten“ einzuplanen. Es ist immer wieder eine Herausforderung, alle Termine unterzubringen. Letztlich muss ich stets neu priorisieren und die Wochenplanung entsprechend anpassen. Es gibt Mandate, die dringender bearbeitet werden müssen als andere. Deren Bearbeitung wird dann vorgezogen. Wenn es einmal gar nicht passt, müssen Termine abgesagt und verschoben werden.

Was begeistert Sie an Ihrer Tätigkeit als Strafverteidigerin?

Als Strafverteidigerin habe ich eine sehr bedeutsame Aufgabe innerhalb des Rechtsstaates. Ich sehe Strafverteidiger*innen als weitere wichtige Säule neben der Legislative, Judikative und Exekutive. Strafverteidiger*innen schaffen einen wichtigen Ausgleich zu dem umfassenden Machtmonopol des Staates. Als Strafverteidigerin habe ich mit meiner Fachkompetenz die Möglichkeit, Menschen, die schuldig oder unschuldig in die Fänge der Justiz geraten sind, dabei zu helfen, in ihrem Verfahren für die Einhaltung von Verfahrensgrundsätze einzustehen. Das begeistert mich. Letztlich geht es als Strafverteidiger*in immer darum, die Einhaltung der in Deutschland geltenden rechtsstaatlichen Prinzipien, wie die Unschuldsvermutung und das Recht auf ein faires Verfahren, durchzusetzen. In erster Linie stehen dabei nicht die Delikte im Vordergrund, die meine Mandant*innen begangen haben sollen. Vielmehr geht es darum, meine Mandant*innen vor staatlicher Willkür zu schützen und sie in einer Not- und Extremsituation zu begleiten und ihnen bestmöglich beizustehen.

Als Sie damals im Alter von 17 Jahren mit Ihrer Mutter und Ihren Geschwistern aus Afghanistan nach Hamburg geflohen sind, konnten Sie kein Deutsch. Was für Erfahrungen haben Sie bei Ihrer Ankunft in Deutschland gemacht?

Ich bin ein sehr extrovertierter Mensch und vertrete gerne meine Meinung. Als ich mit meiner Familie damals nach Deutschland kam, fühlte es sich für mich so an, als hätte man mir mit einem Mal meinen Verstand und meine Persönlichkeit genommen. Ich befand mich in einer Situation, in der ich mich nicht mehr ausdrücken konnte. Aufgrund meiner fehlenden Sprachkenntnisse hatte ich das Gefühl, dass andere Menschen schnell die Geduld mit mir verloren oder mich nicht ernst nahmen. Es kam häufig zu Missverständnissen, was wiederum zu Konflikten führte. Ich hatte das Gefühl, dass einige Menschen mich für dumm hielten, nur weil ich die deutsche Sprache nicht gut beherrschte. Das war für mich sehr belastend und einschüchternd. Ich fühlte mich ausgeschlossen und nicht als Teil der Gemeinschaft. Das wurde damals noch dadurch verstärkt, dass ich bei unserer Ankunft in Deutschland nicht mehr schulpflichtig war. Ich durfte keine deutsche Schule besuchen und saß daher oft allein in unserem Zimmer am Hansaplatz in Hamburg. Die Wohnung war umgeben von Gewalt, Prostitution, Drogen- und Alkoholmissbrauch; das war für mich ein absoluter Kulturschock! Auch war unsere Notunterkunft fast ausschließlich von alleinstehenden, männlichen Asylbewerbern bewohnt. Mangels anderer Alternativen habe ich in unserer 1-Zimmer-Wohnung Fernsehen geschaut, um Deutsch zu lernen. Ich hatte oft Langeweile, fühlte mich allein und habe oft geweint. Zwischenzeitlich habe ich mir sogar gewünscht, zurück nach Afghanistan zu gehen, obwohl dort Krieg herrschte und Bomben flogen.

Ich habe mir damals mehr Unterstützung erhofft. Insbesondere hätte ich mir gewünscht, dass es schon damals (mehr) Menschen gegeben hätte, die sich freiwillig um Geflüchtete – wie ich und meine Familie es waren – gekümmert hätten. Es wäre sehr hilfreich gewesen, wenn es kostenlose Deutschkurse gegeben hätte. Klar, inzwischen hat sich zum Glück für nach Deutschland kommende Geflüchtete vieles verbessert. Ich freue mich sehr darüber, dass in Deutschland mehr Bewusstsein für die Bedürfnisse von Geflüchteten besteht und diese besser betreut werden! Aber auch noch heute gibt es leider Geflüchtete, die bei ihrer Ankunft in Deutschland dieselben Erfahrungen wie ich und meine Familie damals machen. Sie werden jahrelang nur geduldet, verfügen über keine dauerhafte Perspektive und müssen ständig die Abschiebung fürchten. Das zu sehen, macht mich traurig. Gleichzeitig motiviert es mich gegen diese Ungerechtigkeiten politisch vorzugehen, da ich das Leid dieser Menschen nur zu gut aus eigener Erfahrung kenne.

Wie kam es dazu, dass Sie sich entschieden haben, Jura zu studieren?

Letztendlich lag es an meinem nicht zu bändigenden Willen. Ich habe auch trotz aller Zweifel nie aufgegeben. Mein extremer Gerechtigkeitssinn hat mich zu der Erkenntnis gebracht, dass auch in Deutschland die Dinge mit Blick auf die Rechtsstaatlichkeit nicht ideal laufen. Das haben ich und meine Familie am eigenen Leib zu spüren bekommen. Wir hatten bei unserer Ankunft in Deutschland viele Probleme mit dem Ausländeramt. Es war ein stetiger Kampf. Uns wurde von Seiten der Behörde oft gesagt, dass dies und jenes nicht ginge oder sie nicht zuständig sei. Oft standen wir hilflos da und wussten nicht, was wir tun sollen. Das hat mich gestört. Es hat mich an meine Zeit als Mädchen in Afghanistan erinnert, wo mir auch oftmals gesagt wurde, wie ich mich als Mädchen zu verhalten habe. Das hat in mir das Bedürfnis geweckt, meine Rechte zu kennen und für diese einzustehen. Durch ein paar glückliche Zufälle hat sich mir die Möglichkeit eröffnet, auf ein Wirtschaftsgymnasium zu gehen. Immer wenn jemand zu mir sagte, dass etwas nicht gehe, hat mir das noch den „Extrakick“ gegeben und ich wollte das Gegenteil beweisen. Auch schon auf dem Wirtschaftsgymnasium wurde mir gesagt, dass meine Sprachkenntnisse für ein Jurastudium nicht ausreichend seien. Das hat mich zusätzlich motiviert.

Verstärkt wurde mein Bedürfnis, Jura zu studieren noch dadurch, dass es in meinem Umfeld viele Menschen mit strafrechtlichen und / oder ausländerrechtlichen Problemen gab, die nicht lesen konnten. Nebenbei habe ich damit angefangen, für mein Umfeld die deutsche Post zu übersetzen und bin mit ihnen zu Gericht oder zur Ausländerbehörde gegangen. Schon damals habe ich mein erstes „Einstellungsschreiben“ verfasst und das Verfahren wurde daraufhin tatsächlich eingestellt. Das hat mich enorm darin bestärkt, Jura zu studieren. Außerdem wollte ich schon immer etwas mit Sprache machen und ursprünglich Schriftstellerin werden. Das passte meines Erachtens gut zu einem Jurastudium. Ich sah darin noch zusätzlich die Chance, meine Sprachkenntnisse weiter zu verbessern.

Nach Abschluss des Referendariats haben Sie zunächst im Insolvenzrecht gearbeitet. Wie war Ihr Weg in die Selbstständigkeit?

Ich kannte das Insolvenzverwaltungsbüro bereits aus meiner Zeit vor und während meines Referendariats. Mir hatte die Arbeit dort gut gefallen und sie hatten mir bereits vor den Noten des zweiten Staatsexamens einen Arbeitsvertrag angeboten. Den Arbeitsvertrag habe ich dort unter der Bedingung unterschrieben, dass ich parallel zu meiner dortigen Tätigkeit „nebenbei“ als selbstständige Rechtsanwältin arbeiten durfte. Das war mir ein sehr wichtiges Anliegen, weil ich auch die Arbeit in meinem Familien- und Bekanntenkreis fortsetzen wollte. Dort herrschten nach wie vor allerhand Probleme und diese Arbeit wollte ich nicht aufgeben. Sie hat immer sehr viel Freude bereitet und das wollte ich auf keinen Fall missen. Direkt in die Selbstständigkeit zu gehen, habe ich mich allerdings auch nicht getraut. Deswegen erschien mir dieser „Mittelweg“ als die perfekte Lösung.

Mein Arbeitsalltag war dann so ausgestaltet, dass ich in etwa 30 Stunden an vier Tagen in der Woche für die Kanzlei gearbeitet habe und den Rest der Woche für meine Tochter und meine Selbstständigkeit eingeteilt habe. Im Laufe der Zeit wurde der Umfang meiner Arbeit als selbstständige Rechtsanwältin jedoch immer mehr, insbesondere weil ehemalige Mandant*innen mich weiterempfahlen. Ich hatte zu dem Zeitpunkt immer noch keine eigenen Büroräumlichkeiten, was häufig dazu führte, dass ich Mandantengespräch in unserem kleinen privaten Wohnzimmer führen musste. Ich empfand es als immer größer werdendes Problem, dass jede(r) Mandant*in dadurch zwangsläufig auch meine private Wohnanschrift kannte. Also war klar, dass ich etwas ändern musste.

 

Zunächst habe ich im Insolvenzverwaltungsbüro gefragt, ob ich die Gespräche mit Mandant*innen in ihren Räumlichkeiten abhalten kann, was sie glücklicherweise bejahten. Dennoch merkte ich zunehmend, dass mich die Tätigkeit im Insolvenzrecht nicht so sehr begeisterte wie meine Arbeit als selbstständige Rechtsanwältin. Mir fehlte vor allem der direkte Kontakt zu den Mandant*innen, das Verfassen von Schriftsätzen und die Arbeit im Gerichtssaal. Nach etwa zwei Jahren habe ich mir dann gesagt, dass ich nicht mehr beides parallel machen kann. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt viel zu wenig Zeit für meine Tochter, da ich die Wochenenden fast vollends mit der Arbeit für meine Selbstständigkeit verbrachte. Ich musste endlich Farbe bekennen, für welche Tätigkeit ich mich entscheide. Das war für mich eine schwierige Entscheidung, weil ich Angst davor hatte, mit der Selbstständigkeit nicht finanziell für mich und meine Familie sorgen zu können. Ich hatte mir überlegt, dass ein gewisses Gehalt es mir wert sei, auf meine selbstständige Tätigkeit zu verzichten. Mit dieser Gehaltsvorstellung bin ich dann an die Kanzlei herangetreten; wir konnten jedoch keine Einigung erzielen. In dem Moment habe ich bemerkt, dass ich geradezu erleichtert war, dass es nicht zu einer Einigung kam. Ich habe gemerkt, dass ich mich innerlich schon längst für die selbstständige Tätigkeit entschieden hatte.

Wie gestaltete sich die Gründung Ihrer Kanzlei und welche Tipps haben Sie für Jurist*innen, die ebenfalls planen, den Weg in die Selbstständigkeit zu gehen?

Für mich war der Aufbau meiner Selbstständigkeit aus der Festanstellung auf jeden Fall der richtige Weg. Ich habe die Festanstellung als sehr beruhigend wahrgenommen und hatte so stets die Sicherheit, genug Einkommen für mich und meine Familie zu haben. Das hat für mich den finanziellen Druck aus meiner selbstständigen Tätigkeit genommen. Ich hatte meine Selbstständigkeit „just for fun“ und war nicht finanziell auf sie angewiesen. Ich möchte gar nicht in Abrede stellen, dass man sich auch gut direkt nach dem zweiten Staatsexamen selbstständig machen kann. Für mich war das aber damals nicht der richtige Weg. Auch musste ich durch das vorhandene Einkommen keinen Kredit für die Gründung meiner Kanzlei aufnehmen. Dabei geholfen hat natürlich auch, dass ich zu Beginn meiner Selbstständigkeit kaum Kosten hatte, da ich weder Angestellte noch ein Büro hatte. Das war auf der einen Seite sehr gut. Die Schattenseite der fehlenden Büroräumlichkeiten war allerdings, dass ich meine Mandant*innen zum Gespräch oftmals zu mir nach Hause einladen musste, was ich ab einem gewissen Punkt als sehr unangenehm empfand.

Rückblickend hätte ich gerne früher gelernt für den Wert meiner Arbeit gegenüber meinen Mandant*innen einzustehen. Ich habe zu Beginn meiner Selbstständigkeit oft den Fehler gemacht, nicht auf eine gewisse Vergütung für meine Beratung zu bestehen. So habe ich mich häufig unter Wert verkauft. Ich hatte mir zu Beginn nie über mein Vergütungsmodell Gedanken gemacht. Daher habe ich mit Mandant*innen zu Beginn nicht über die Kosten gesprochen. Hier hätten sich klare Vergütungsrichtlinien und -vereinbarungen gelohnt. Schlussendlich habe ich so auf einen Großteil meiner Vergütung verzichtet. Das würde ich heute definitiv anders machen. Ich kann jedem, der sich selbstständig machen will, nur raten, sich darüber frühzeitig Gedanken zu machen.

Als Strafverteidigerin ist man immer mal wieder mit belastenden Lebensgeschichten der Mandant*innen konfrontiert. Wie gehen Sie damit um?

Die Belastung, die ich empfinde, ist von Fall zu Fall unterschiedlich. Natürlich gibt es Schicksale, die eine*n auf emotionaler Ebene mehr treffen als andere. Es gibt Fälle, die mich auch noch Jahre später beschäftigen. Ich versuche mich auf meine Fälle so gut wie möglich nur fachlich zu konzentrieren. Da mein Alltag so durchgeplant ist, komme ich tatsächlich gar nicht so oft dazu, mir wirklich abseits der fachlichen Seite über meine Fälle Gedanken zu machen.

Wenn es doch mal dazu kommt, hilft mir der Ausgleich durch Sport. Ich gehe beispielsweise mehrmals pro Woche joggen, jeden Tag mit meinem Hund „Paco“ spazieren und tanze gerne. Dadurch schaffe ich es, die Gedanken loszulassen. Ich habe geradezu das Gefühl, meine Sorgen einfach auszuschwitzen. (lacht)

Neben dem körperlichen Aspekt hilft es mir auch Musik zu hören oder ein Buch / Gedicht zu lesen. Ich versuche mir jeden Tag zu vergegenwärtigen, dass ich einen Job habe, der in vielen Ländern nicht selbstverständlich ist und dass ich damit Menschen helfen kann. Klar gibt es auch immer mal wieder Mandant*innen, die nicht vollends mit meiner Arbeit zufrieden sind. Aber das überwiegend weitaus positive Feedback, motiviert mich jeden Tag aufs Neue, mich für die Interessen meiner Mandant*innen einzusetzen

Sie sind Mutter einer Tochter. Wie haben Sie den Alltag mit Kind und Selbstständigkeit organisiert?

Inzwischen ist meine Tochter 18 Jahre alt. Sie ist ohne Frage das Beste, was mir in meinem Leben passiert ist. Wenn ich rückblickend etwas anders machen könnte, dann wohl sie nicht schon vor dem Referendariat zu bekommen. Mich hat die damalige Situation zwischen Stationsarbeit, Lernen für das zweite Staatsexamen und Kinderbetreuung sehr belastet. Ich war körperlich wirklich am Ende. Ich möchte nicht sagen, dass man diese Doppelbelastung nicht stemmen kann. Rückblickend würde ich aber mit der Familiengründung bis nach Abschluss des Referendariats warten. Demgegenüber muss ich sagen, dass ich sehr froh bin, dass es mit dem Kinderkriegen überhaupt funktioniert hat. Bei vielen Menschen in meinem Freundes- und Bekanntenkreis, die die Kinderfrage auf einen sehr späten Zeitpunkt in ihrer Karriere verschoben haben, funktioniert es einfach nicht (mehr). Dessen sollte man sich immer bewusst sein und sich frühzeitig darüber Gedanken machen, ob man Kinder haben möchte und wann. Das Thema sollte meines Erachtens nicht immer aufs Ungewisse in die Zukunft verschoben werden, bis es irgendwann „zu spät“ ist.

Karriere und Kinderkriegen sind auf jeden Fall miteinander vereinbar. Letztlich ist es immer eine Frage der Organisation. Man muss im Alltag flexibel sein; dann funktioniert es immer irgendwie. Ich habe mich viel mit meinem Mann, meiner Familie und der Kita abgesprochen und so findet man immer eine Lösung. Als ich mich vollends für die Selbstständigkeit entschieden hatte, habe ich meine Tochter auch häufig einfach mit ins Büro genommen. Meine Sekretärin hatte zu dem Zeitpunkt ebenfalls einen kleinen Sohn und wir haben uns die Betreuung der Kinder untereinander aufgeteilt. So konnten wir die anstehenden Aufgaben gut bewältigen. Das war wirklich super!

Seit längerer Zeit engagieren Sie sich stark für Menschenrechte, insbesondere für die Rechte von Frauen in Afghanistan. Sie haben dort selbst Familie und Freund*innen. Können Sie die dortige Situation für uns zusammenfassen?

Die Lage der afghanischen Frauen ist sehr schlecht. Die Frauen wurden von allen Möglichkeiten ausgeschlossen: Ihnen ist der Zugang zu Bildung vollends verwehrt. Die Taliban haben afghanischen Frauen den Besuch von Schulen und Universitäten vollständig verboten. Frauen dürfen nicht mehr bei NGOs mitarbeiten und nur noch in sehr begrenzter Art und Weise überhaupt am Berufsleben teilnehmen. Sie dürfen keine Musik hören, keine Theater und Museen besuchen und sind generell von allen kulturellen Einrichtungen ausgeschlossen. Jeder Frau dort wird ihre Identität genommen. Das wird noch dadurch verstärkt, dass die afghanischen Frauen überall Burka tragen müssen. Ich persönlich empfinde das Tragen einer Burka als lebenslange Gefängnisstrafe für eine Frau. Durch die Burka wird einer Frauen jedwede Form von Individualität genommen. Ich empfinde sie als Symbol der Unterdrückung von Frauen. Es ist schlichtweg nicht nachvollziehbar, dass im Namen des Islams frauenfeindliche Gesetze aufrechterhalten und verabschiedet werden.

Ich finde es unendlich mutig, dass Frauen in Afghanistan ihre Stimme erheben und auf die derzeitige Situation aufmerksam machen. Viele von ihnen werden weggesperrt, vergewaltigt, getötet. Sie werden eingeschüchtert, oder es wird Druck auf ihre Familie ausgeübt. Den Familien wird aufgegeben „ihre“ Frauen unter Kontrolle zu bekommen. Andernfalls würden sich die Taliban um die Situation kümmern und die Familien bestrafen. So verlieren die Frauen nicht nur ihre Rechte, sondern zugleich auch ihre engsten Verbündeten. Die Familien fügen sich zumeist dem Druck der Taliban aus Sorge um das eigene Wohlergehen. Generell ist es Frauen nur noch erlaubt in der Anwesenheit eines Mannes in die Öffentlichkeit zu gehen und zu reisen. Das schafft eine sehr starke Abhängigkeit der Frauen von ihren männlichen Familienangehörigen. Männern wird die Möglichkeit gegeben vollends über die Frauen zu entscheiden. Das schafft natürlich noch zusätzlich viele Konflikte.

Was wünschen Sie sich von Ihren Mitmenschen und der Politik in Bezug auf das Thema Frauenrechte in Afghanistan?

Ich persönlich bin der Auffassung, dass die zwanzig Jahre Bundeswehr in Afghanistan ihren eigentlichen Sinn und Zweck verfehlt haben. Viele Soldaten haben ihr Leben dort gelassen und trotzdem ist die Lage heute wieder so, wie zu Beginn des Einsatzes. Das ist frustrierend! In Deutschland stellt sich die Lage so dar, dass wir weitestgehend nichts tun, und wenn wir was tun, dann ist es so unzureichend, dass mir schlecht wird. Das Versagen der Bundeswehr in Afghanistan wird trotz Bestehen eines Untersuchungsausschusses nur sehr unzureichend aufgeklärt. Es wird sich hinter Schutzbehauptungen versteckt, man habe ohne die Unterstützung der Vereinigten Staaten keine Chance gehabt. Es steht fest, dass die Vereinten Staaten mit den Taliban, ohne Beteiligung der afghanischen Regierung und der NATO-Verbündeten, das Doha-Abkommen abgeschlossen haben. Die Vereinbarung regelt im Wesentlichen den Rückzug der Truppen der Vereinigten Staaten sowie der Verbündeten aus Afghanistan und enthält im Gegenzug Sicherheitszusagen. Für die Vereinigten Staaten scheint in erster Linie wichtig zu sein, dass die Taliban für sie selbst keine Gefahr mehr darstellen. Es ist jedoch nur eine scheinbare Sicherheit. Man muss sich eingestehen, dass sich die Taliban nicht verändert haben. Sie sind eine gefährliche, terroristische Vereinigung, die stärker ist als je zuvor. Welche Konsequenzen das für die Menschen vor Ort hat, so habe ich das Gefühl, ist sehr stark ins Hintertreffen geraten bzw. spielt gar keine Rolle mehr. Die Taliban sind im afghanischen Fernsehen mit deutscher Militärausrüstung ausgestattet. Mir als Deutscher tut es weh, so etwas zu sehen!

Afghanistan hat einfach Pech. Die Priorität der deutschen Politik liegt woanders: Corona, Ukraine-Krieg, Iran. Ich möchte das nicht kleinreden. Das sind alles Krisen, mit denen man sich beschäftigen muss. Ich persönlich würde mir allerdings wünschen, dass für die Frauen in Afghanistan mehr getan werden würde. Wir dürfen sie nicht aufgeben! Ich würde mir wünschen, dass nicht pauschal angenommen wird, es gehöre zur afghanischen Kultur, dass Frauen Burka tragen und nicht zur Schule gehen. In Afghanistan führt eine terroristische Spitze eine „Geschlechterapartheit“ ein und die Welt scheint wegzuschauen. Die Bundesregierung versucht die Verantwortung für die Aufnahme von Afghaninnen in Deutschland auf NGOs zu übertragen, ohne dass grundlegende Fragen hierzu geklärt wurden. Hier entzieht sich die Regierung ihrer Verantwortung. Das ist nicht verfassungskonform. Man muss die terroristische Vereinigung der Taliban beim Namen nennen und darf sie nicht weiter verharmlosen und mit ihnen Geschäften machen. Es muss in Deutschland noch mehr das Bewusstsein geschärft werden, dass es universelle Menschenrechte gibt, die für jeden Menschen, unabhängig von seiner Herkunft, gelten. Wir müssen verstehen, dass ein Angriff auf die Menschenrechte, egal wo er passiert, jeden Menschen betrifft. Ich würde mir wünschen, dass nicht pauschal davon ausgegangen würde, wir hätten schon alles versucht und es sei aussichtslos. Einerseits ist eine finanzielle Unterstützung von Frauen in Afghanistan weiterhin sehr wichtig. Andererseits ist es wichtig, sich für die Bildung der Menschen in Afghanistan einzusetzen und hier z.B. Online-Kurse anzubieten. Nur so kann verhindert werden, dass sie vor Ort den Aussagen der Taliban so sehr verfallen, dass sie am Ende sogar bereit sind, ihr Leben für diese Ideologie herzugeben. Ebenfalls wünsche ich mir, dass in der Asylpolitik die systematische Verfolgung von Frauen endlich als eigener Asylgrund aufgenommen wird.

Schlussendlich finde ich es auch wichtig, die deutschen Unterstützer*innen der Taliban zu ermitteln und entsprechend zu bestrafen. Wir müssen als Bevölkerung auf die Missstände aufmerksam machen. Nur so entsteht genug Druck auf die Entscheidungsträger in der Politik, die ein effektiveres Handeln möglich machen. Die Verachtung der afghanischen Frau steht der Verachtung eines jeden Menschen, insbesondere jeder Frau, gleich. Wir sind alle davon betroffen, auch wenn wir hier in Deutschland die Einschränkungen nicht unmittelbar wahrnehmen. Das ist frauenfeindlich, gegen jede Frau, die sich frei kleiden, in einem Beruf ihrer Wahl arbeiten und sich selbst verwirklichen möchte. Mein Traum ist, dass es zu einer Revolution in Afghanistan kommt, die eine Änderung der Umstände herbeiführt.

Welche Juristin hat Sie so inspiriert, dass sie als Vorbild für breaking.through nominiert werden sollte? Wieso?

Hier möchte ich zunächst Shirin Ebadi nennen. Der Mut dieser iranischen Frau begeistert mich immer wieder! Als Shirin Ebadi ihren Friedensnobelpreis erhielt, hat mir das aufgezeigt, was eine einzige Frau für die Einhaltung der Menschenrechte bewirken kann. Sie war die Stimme von Millionen Iranerinnen und muslimischen Frauen auf der ganzen Welt. Das hat mich ermutigt, mich auch weiterhin engagiert für Menschenrechte einzusetzen. Durch sie habe ich erkannt, wie wichtig es ist, sich für dieses Thema weltweit stark zu machen.

Ebenfalls möchte ich an dieser Stelle die ehemalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger nennen. Sie hat sich damals gegen die Bundesregierung und ihre Partei gestellt und sogar ihr Amt als Bundesjustizministerin niedergelegt, um für das einzustehen, was sie für richtig hielt. Es ging seinerzeit um die Verfassungsmäßigkeit des sog. „großen Lauschangriffs“. Diese starke Haltung hat mich nachhaltig beeindruckt. Sie war für ihre Überzeugungen bereit, das aufzugeben, worauf sie so lange hingearbeitet hatte. Diesen unabhängigen Willen werde ich niemals vergessen. Ihre Worte haben sich mir ins Gedächtnis eingebrannt: „Angst frisst Freiheit!“. Es stimmt, dass man durch Angst Menschen leicht steuern kann. Das hat letztlich auch Corona gezeigt. Ich finde es wichtig, dass wir als Gesellschaft Dinge nicht immer nur aus unserer sehr eingeschränkten Sichtweise betrachten. Es lohnt sich hin und wieder in die Vogelperspektive zu gehen, um die eigene Sichtweise zu überprüfen und ggf. zu überdenken.

Vielen Dank für das spannende Interview!

Hamburg, 16. Januar 2023. Das Interview führte Lina Runge.

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