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Juliane Kokott

Prof. Dr. Dr. Juliane Kokott im Porträt

"Ich habe nicht nachgedacht, ob ich irgendwas lieber machen möchte; ich hab‘ es einfach gemacht."

Prof. Dr. Dr. Juliane Kokott, Generalanwältin am EuGH, über die Planbarkeit des eigenen Lebensweges, den besonderen Erwartungsdruck vor Stellung der Schlussanträge und die Herausforderungen als Mutter von sechs Kindern.

Frau Kokott, Sie sind nun seit bald 18 Jahren Generalanwältin am EuGH, länger als die meisten Generalanwälte und Generalanwältinnen vor Ihnen. Was fasziniert Sie nach wie vor an Ihrem Beruf?

Dass das, was man tut, immer wieder neu und so vielfältig ist; es schleicht sich keine Routine ein. Die Fälle, die ich behandle, sind immer neu und miteinander nicht vergleichbar. Auch reizen mich die Rechtsprobleme aus der Praxis. Man kann sich die juristischen Fragestellungen, mit denen ich konfrontiert werde, in seinem Forscher-Stübchen gar nicht ausdenken. Das Leben ist einfach interessanter. Zudem ist das Niveau, auf dem ich und meine Mitarbeiter arbeiten dürfen, sehr hoch. Das macht mir Spaß. Natürlich ist es auch toll, an einem Gericht zu arbeiten, dessen Rechtsprechung solch immense Auswirkungen nach sich zieht.

Wie sieht der klassische Arbeitsalltag einer Generalanwältin am EuGH aus?

Es gibt eigentlich keinen typischen Arbeitsalltag. Aber gerade das ist es ja, was ich an meinem Beruf so genieße. Ich wollte nie einen Beruf, der immer gleich ist. Meine Tage am Gerichtshof gestalten sich sehr individuell, je nach Anlass, je nach Fall. Es gibt Zeiten, wie im Moment während Corona, in denen ich hauptsächlich an Akten arbeite und nur für die mündlichen Verhandlungen am Gerichtshof bin. Dann gibt es wieder andere Tage und Wochen, in denen ich zu verschiedenen obersten Gerichten reise, mit Richterinnen und Richtern europarechtliche Fragestellungen diskutiere, viele mündliche Verhandlungen habe oder mit den anderen 37 Mitgliedern des Gerichtshofs sowie dem Kanzler bei der sog. réunion génerale, der Generalversammlung des Gerichtshofs, zusammensitze, um anhängige Fälle zu besprechen.

Sie haben in Bonn und Genf studiert, Ihr Referendariat in Heidelberg absolviert, zwei Doktortitel in Heidelberg und Harvard und zusätzlich einen LL.M. in Washington erworben. Anschließend haben Sie habilitiert. Würden Sie sagen, dass eine so umfassende akademische Laufbahn für eine spätere Karriere zwingend erforderlich ist?

Man kann sich ja umschauen an den Unionsgerichten: Da ist nicht jeder habilitiert. Der Doktortitel ist schon eher verbreitet und diesen halte ich persönlich auch für sehr nützlich, aber nicht zwingend notwendig. Auslandserfahrung und eine gewisse Affinität für Sprachen sollte man allerdings haben, wenn man international arbeiten möchte. Ist das allerdings das persönliche Ziel, führen einen die eigenen Interessen wahrscheinlich sowieso zwangsläufig auf diesen Weg.

Apropos Weg: Ergibt sich die persönliche berufliche Laufbahn irgendwann von selbst oder glauben Sie, man muss diese aktiv gestalten und den Weg wählen, den man geht?

Mmh (lacht), das ist eine interessante Frage. Ich glaube, das ist eine Typfrage. Bei mir war es wohl eher so, dass sich die Laufbahn so ergeben hat. Ich hatte aber auch immer das Glück, das zu machen, was mir Spaß macht. So habe ich z.B. Kafka gelesen, weil es mir Spaß machte, und so mein Interesse für die deutsche Sprache erweitert oder französische Literatur im Original gelesen, weil ich Spaß daran hatte, und so, als logische Folge, mein Französisch verbessert.

Ursprünglich wollte ich Diplomatin werden. Aber als ich meinen LL.M. in Washington machte, hatte ich plötzlich nicht mehr dieses Ziel. Ich habe erkannt, dass ich nicht ständig auf gesellschaftlichen Anlässen rumstehen möchte, sondern lieber meine Zeit in Ruhe in der Bibliothek verbringe und schreibe. Als es um die Frage der Habilitation ging, stellte ich mir die Frage: „Wann willst du Professorin werden? Willst du auch mit 45, grau meliert, wie so viele andere vor dem Kopierer stehen?“ Nein, das wollte ich nicht. Deshalb setzte ich mir das Ziel, meine Habilitation in maximal fünf Jahren zu beenden. D.h. wenn ich jetzt genauer drüber nachdenke, habe ich insofern schon viel geplant. Und trotzdem hatte ich auch einfach viel Glück.

Ich kann aber nur allen raten, sich ihre Ziele aufzuschreiben. Ich habe mir immer Deadlines gesetzt, für Seminararbeiten, Doktorarbeiten, Papers, usw. Ich habe mich auch regelmäßig gefragt, wo ich in einem Jahr, in drei oder in zehn Jahren stehen möchte. So wusste ich, was ich will. Das hilft enorm, Entscheidungen zu treffen.

D.h. Sie hatten auch nie Entscheidungsschwierigkeiten?

Nein, hatte ich tatsächlich nicht. Als ich sieben Jahre alt war, stand schon in meinem Notizbuch, das ich von meinem Vater bekommen hatte: Dr. iur. Juliane Kokott (lacht). Ich habe aber auch nicht groß drüber nachgedacht, ob ich irgendwas lieber machen möchte; ich hab‘ es einfach gemacht.

Im Laufe Ihrer beruflichen Tätigkeit haben Sie eine beachtliche Anzahl bedeutender akademischer Preise erhalten und wurden mittlerweile von über zehn bedeutenden Zeitungen porträtiert. In der Presse spricht man von Ihnen als „Staranwältin“, „Karrierefrau“ oder „Super-Woman“. Was bedeutet dieser Ruhm für Sie? Haben Sie das Gefühl, „Sie haben es geschafft“?

Für mich war immer wichtig, dass ich etwas mache, was mir Freude macht und wovon ich auskömmlich leben kann; irgendwann kam noch der Aspekt einer gesunden Familie mit hinzu. Und das alles habe ich ja; insofern habe ich es geschafft, ja.

Sie haben in zahlreichen Verfahren vor dem EuGH als Generalanwältin Schlussanträge gestellt, die eine wichtige Grundlage für die Entscheidung der Richterinnen und Richter bilden. Welche Verfahren sind Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben?

Ich glaube, ich kann das tatsächlich nicht so benennen. Jedes Verfahren ist für sich genommen reizvoll und alle zusammen genommen sind so vielfältig. Der Fall um die Schließung der Central European University in Budapest etwa war kürzlich hochinteressant für mich als Völkerrechtlerin.

Ganz abstrakt kann ich sagen, dass ich Fälle immer dann spannend finde, wenn sie eine gewisse Tragweite und Neuartigkeit mit sich bringen und dann natürlich auch noch juristisch herausfordernd sind; wenn die Fälle dann auch noch technisch nicht ganz so „verzwatzelt“ sind, ist der perfekte Fall für mich geboren. Insgesamt ist es aber natürlich schwer, das zu generalisieren.

Auch, wenn die Richter der Empfehlung von GeneralanwältInnen zwar nicht folgen müssen, tun sie dies in ungefähr achtzig Prozent der Fälle dennoch. Ihren rechtlichen Einschätzungen und Plädoyers kommt dadurch eine beachtliche Bedeutung zu. Wie gehen Sie damit um? Hat diese Tatsache Einfluss auf Ihre Arbeit?

Wenn sich die Lösung aus dem Gesetz ergibt, braucht man nicht so sehr unter der Entscheidungslast zusammenzubrechen (lacht). Eigentlich ist es nur bei den Grenzfällen schwierig: Wenn der Fall eine große Tragweite hat, ringt man schon sehr. Man sucht nach einer Entscheidung, die dem Geist des Gesetzes entspricht und gleichzeitig gerecht ist. Ich arbeite dabei nach bestem Wissen und Gewissen. Man diskutiert und spricht viel mit anderen und überlegt lange, aber das meiste lässt sich dann doch zufriedenstellend lösen.

 

Ich z.B. verfahre nach dem Vier-Augen-Prinzip: Diskutieren wir intern einen Fall, müssen meine Mitarbeiter zuerst sagen, was Sie darüber denken, und erst dann sage ich meine Meinung dazu. Das verhindert, dass man voreingenommen ist.

Von Oktober 2006 bis Oktober 2007 waren Sie Erste Generalanwältin. Welche zusätzliche Verantwortung brachte diese Tätigkeit mit sich?

 

Die wesentliche Veränderung lag darin, dass ich die Fälle verteilt habe und wesentlich mehr protokollarische Verpflichtungen hatte. Ansonsten ändert sich aber nichts.

Als Sie 2003 an den EuGH gewählt wurden, waren Sie die dritte Frau in der gesamten Geschichte des Europäischen Gerichtshofs, die als Generalanwältin dort arbeitete. Brachte das Bewusstsein über diese Tatsache eine gewisse Erwartungshaltung und dadurch auch Druck mit sich?

Bei mir persönlich nicht, glaube ich. Ich war schon immer gewohnt, eine der ersten Frauen irgendwo zu sein. Wichtig ist, dass man sein Selbstbewusstsein nicht verliert. Über Diskriminierung, weil ich eine Frau bin, kann ich mich insgesamt aber nicht beklagen, seit ich habilitiert bin. 

Was meine Rolle für die Ernennung anderer Frauen an die Unionsgerichte anbelangt, da ist es schwierig, aus meiner Position heraus etwas zu tun, da die Mitglieder ja von den Regierungen benannt werden. Aber im Kleinen versuche ich natürlich schon, meine ReferentInnenstellen z.B. ausgeglichen zu besetzen oder ähnliches.

Derzeit sind von 11 Generalanwälten und Generalanwältinnen neun Stellen männlich und lediglich zwei Stellen weiblich besetzt. Bei den Richtern und Richterinnen sieht es ähnlich aus: 21 Richter sind männlich, 5 Richterinnen sind weiblich. Was sind aus Ihrer Sicht die Gründe für diese ungleiche Verteilung?

Überkommene Rollenbilder, die sich zum Glück und zum Vorteil beider Geschlechter und vor allem auch zum Wohle der Kinder ändern; denn Kinder brauchen beides, Väter und Mütter. Beide Geschlechter müssen die Freiheit bekommen, sich zu entscheiden, was sie beruflich und was sie privat bzw. innerfamiliär machen wollen. Ich beobachte aber, dass wir in dieser Hinsicht auf einem guten Weg sind. Man macht Fortschritte.

Was die Besetzung von Richterposten am EuGH angeht, besteht aus meiner Sicht kein Grund, dass insbesondere Männer diese hohen Positionen innehaben, denn Frauen sind natürlich genauso gute Juristinnen. In meiner Generation waren Frauen einfach zu gehorsam; aus meiner Referendar-Gruppe wollten beispielsweise die meisten Frauen Richterinnen werden, um Teilzeit zu arbeiten, den Haushalt zu versorgen und Kinder zu kriegen. Ich bezweifle jedoch, dass es eine gute Ausgangsmöglichkeit für eine steile Karriere ist, wenn man einen Beruf nicht um seiner selbst willen, sondern aufgrund von Sekundärmotiven wählt.

Für Frauen ist es aber auch einfach schwieriger wegen der Mutterrolle. Deswegen ist es wichtig, dass der Vater die Mutter unterstützt, wo er nur kann.

Welche Entwicklung können Sie bezüglich des Verhältnisses von Männern und Frauen am EuGH seit Ihrer Ankunft am EuGH beobachten?

Am Gericht, unserer ersten Instanz, ist es besser geworden, am Gerichtshof selbst finde ich es noch nicht so überzeugend. Aber es tut sich etwas.

Sie sind Mitglied beim Deutschen Juristinnenbund e.V., engagieren sich bei Veranstaltungen von und für Frauen und argumentierten 2011 im Verfahren über unterschiedliche Versicherungstarife für Männer und Frauen zugunsten eines Unisex-Tarifs. Was bedeutet für Sie das Thema Frauenförderung und Geschlechtergerechtigkeit?

Gleicher Zugang, gleiche Partizipation. Es gibt keinen Grund dafür, dem einen Geschlecht weniger Stimme zu geben; dadurch drohen „schiefe“ Ergebnisse, insbesondere in einer gesellschaftsgestaltenden Wissenschaft.

Als Mutter von sechs Kindern gelten Sie als Vorbildfigur für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf: Wie schaffen Sie es, beidem gerecht zu werden?

Mit mehreren Kindern ist es wesentlich einfacher, denn die spielen untereinander. Das macht die Erziehung etwas einfacher. Ich habe aber auch das Glück, unkomplizierte Kinder zu haben. Außerdem hatten wir ein Kindermädchen, das viele Betreuungsaufgaben übernommen hat. Und ich muss zugeben, wir haben die Zu-Bett-Geh-Zeiten der Kinder etwas locker gehandhabt, so dass sie noch wach waren, wenn ich abends heimkam. So konnte ich auch noch Zeit mit ihnen verbringen. Und dadurch, dass es so viele waren, gingen sie danach auch einfacher ins Bett, weil sie so müde waren (lacht).

Natürlich gehört auch ein kooperativer Ehemann dazu. Meiner z.B. hat immer die ganze Organisation von Kindermädchen und Bring- und Abholdiensten zum Waldkindergarten übernommen. Darum musste ich mich also nicht kümmern. Wichtig ist auch zu wissen, dass man nicht perfekt ist und auch niemals sein kann. Man muss halt Prioritäten setzen.

Und wenn beide Eltern viel arbeiten, sind zwei Dinge wichtig, damit die Erziehung gelingt: Man braucht eine gemeinsame Linie und viel Herz, denn Kinder müssen wissen, dass man für sie da ist, wenn es wichtig ist.

Haben Sie sich bewusst für so viele Kinder entschieden? Wollten Sie schon immer eine so große Familie?

Ja, definitiv. Als ich klein war, hatten wir Nachbarn mit acht Kindern. Das fand ich immer viel lustiger. Auch mein Mann fand viele Kinder gut. Ich hätte tatsächlich auch noch mehr bekommen. Aber es braucht manchmal Zeit, den Ehemann zu überzeugen, zumal wenn dieser selbst sehr viele berufliche Pflichten hat und ich als Mutter tagelang auswärtig arbeite, also weg bin.

Sie verbringen sehr viel Zeit bei der Arbeit, auch auf Dienstreisen und sehen Ihre Kinder vergleichsweise wenig. Hatten Sie jemals ein schlechtes Gewissen oder hat man Ihnen Vorwürfe deswegen gemacht?

Ein schlechtes Gewissen ... nein, das kann ich so nicht sagen. Natürlich bin ich manchmal traurig, wenn ich meine Kinder nicht sehe. Vor allem, wenn man fährt und dich deine Kinder so traurig anschauen, eine meiner Töchter konnte das besonders gut. Das war natürlich schwer. Man kann aber eben nicht alles haben. Man kann nicht Generalanwältin sein und bei jedem Ereignis der Kinder dabei sein. So ist es nun malt.

Wie gehen Sie damit um? Und was raten Sie jüngeren Kolleginnen?

Wichtig ist, dass man sich nicht ohne eigene innere Linie darauf konzentriert, es allen anderen Recht zu machen, weil man glaubt, dass irgendwelche gesellschaftlichen Erwartungen einem das so vorschreiben. Man muss sich selbst fragen, was man will und dann dazu stehen. Und wenn man das dann umsetzt, muss man eben sein Bestes tun. Wenn andere es anders machen, ist das auch gut. Aber es ist wichtig, dass man mit dem zufrieden ist, wofür man sich entschieden hat, denn dann ist man insgesamt eine angenehmere, aber auch bessere Mutter, Frau und Kollegin.

Mich hat früher mal eine Aussage einer Kollegin gefreut, die zu mir sagte: „Wissen Sie, Frau Kokott, wenn man ein Talent für etwas hat, hat man auch die Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft, dieses einzusetzen.“ Das war sehr erfrischend. Ah, und da fällt mir ein: Auch meine Mutter sagte immer zu mir: „Mach’s doch einfach, wie du willst! Am Ende ist es eh falsch. Wenn’s Kind gut gerät, sind es die guten Gene des Vaters, wenn’s schlecht gerät, sind es die Betreuungsfehler der Mutter“ (lacht).

Haben Sie einen Tipp für junge Juristinnen, die sich für eine Karriere am EuGH interessieren?

Auf jeden Fall im Referendariat eine der Stationen am EuGH machen, um zu schauen, ob das überhaupt was für einen ist. Außerdem kann man mal eine Weile Mutterschafts-/Vaterschaftsvertretung machen. Französischkenntnisse sind dafür aber ein Muss und bi-nationale Jurastudiengänge vorteilhaft. Wichtig ist, dass man Selbstbewusstsein hat und sich als Frau nicht abschrecken lässt. Eine gewisse Durchsetzungsfähigkeit und der Wille, für etwas zu kämpfen, helfen da natürlich.

Welche Juristin hat Sie so inspiriert, dass sie als Vorbild für breaking.through nominiert werden sollte? Wieso?

Prof. Dr. Gabriele Britz, Richterin beim BVerfG und Ruth Bader Ginsburg vom Supreme Court in den USA. Für jüngere Frauen könnte auch meine Referentin, Dr. Hanna Schröder, interessant sein. Sie geht ihren Weg und betreibt mit zwei kleinen Kindern Juristerei auf höchstem Niveau, ohne darüber viel Aufhebens zu machen.

Vielen Dank für das Gespräch und die Zeit, die Sie sich dafür genommen haben! 

 

Luxemburg, 22. Juni 2020. Das Interview führte Alicia Pointner.

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