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Marlehn Thieme im Porträt
„Ich bin unerschrocken.“
Marlehn Thieme, Präsidentin der Welthungerhilfe und Vorsitzende des ZDF-Fernsehrates im Interview über soziale Dimensionen der Nachhaltigkeit, Führungs- und Kommunikationskultur.
Frau Thieme, Sie sind Vorsitzende des ZDF-Fernsehrates, der die Programmrichtlinien bzw. die im Rundfunkstaatsvertrag aufgesetzten Grundsätze überwacht. Wie können wir uns Ihre Arbeit in diesem Gremium vorstellen?
Also es gibt einen Programmaufsichtsrat, der die tatsächlichen Programmrichtlinien mit entwickelt und ihre Einhaltung überwacht. Das geschieht durchlaufende standardmäßige Befassung, aber auch durch themenspezifische vor- oder nachgelagerte Schwerpunktberatung. Dann richten Menschen Beschwerden an den Fernsehrat, wenn sie meinen, die Richtlinien seien nicht eingehalten, und alle Fensehratsmitglieder sehen natürlich auch selbst fern und diskutieren das miteinander.
Darüber hinaus gibt der oder die Intendant*in eine Selbstverpflichtungserklärung über programmliche Entwicklungen ab, die der Fernsehrat genehmigt und die wir gemeinsam zu einem transparenten Instrument entwickelt haben. Diese Erklärung beinhaltet mittelfristige Ziele, die auch anhand von Zahlen überprüft werden. Das gibt es in keinem anderen Rundfunkrat.
Der Fernsehrat ist ein parlament-ähnliches Gremium aus 60 Mitgliedern, die aus der Zivilgesellschaft und aus Kommunen, Ländern und dem Bund kommen. Wir tagen viermal im Jahr und arbeiten darüber hinaus in Ausschüssen und diskutieren über die Qualität, Zusammenstellung, Struktur und Akzeptanz des Programms in linearen und digitalen Ausspielwegen. Als Vorsitzende vertrete ich den Fernsehrat in der medienpolitischen Diskussion zum Beispiel demnächst beim Grimme Institut und dann bei den mitteldeutschen Medientagen. Praktische Erfahrungen der Vertreter*innen der Gesellschaft sind gefragt.
Sie sind Präsidentin der Welthungerhilfe und in anderen Führungspositionen aktiv. Was macht für Sie gute Führung aus?
Ich habe sowohl die Erfahrung als Chefin als auch die, Chef*innen über mir zu haben. Ich habe damit auch jahrelang erleben dürfen, wie es sich anfühlt, gut oder nicht gut geführt zu werden. Ich finde wichtig, dass man zum einen mit den Menschen gemeinsam strategische Ziele entwickelt und sie dann auch in der Umsetzung begleitet und das dann auch verfolgt. Also wo stehen wir, was sind Meilensteine, was ist passiert und was soll passieren. Ich versuche ein offenes, transparentes Verhältnis zu haben und auch bei Dingen, die nicht gelingen, diese Offenheit zu leben. Dazu gehören auch klare Ansagen so nach dem Motto: wenn das nicht klappt, dann müssen wir andere Wege finden.
Aus der frühen Wahrnehmung, dass etwas vielleicht nicht gut läuft, kann man eine Wahrnehmung für den oder die andere machen. Vielfalt der Wahrnehmungsmöglichkeiten bereichert und ermöglicht Veränderung. Menschen, mit denen ich zusammenarbeite, können Vieles auch sehr gut, Manches können sie sogar besser als ich. Ich muss als Chefin aber letztlich für alles geradestehen und muss deshalb auch kritisch an die Sache herangehen. Mir ist das menschliche Miteinander sehr wichtig, daher gehört für mich persönliche Wertschätzung immer dazu. Ich möchte nicht gerne Menschen führen, mit denen ich nicht gut zurechtkomme. Ich glaube, man muss Mitarbeitende im Ehrenamt genauso aussuchen wie im professionellen Bereich. Das Entscheidende ist, dass man sich in die Persönlichkeit hineinversetzt, mit der man arbeitet, sich deutlich macht, was erwartet er/sie von dieser Arbeit – zum Beispiel, dass man einen gesellschaftlichen Mehrwert schafft oder dass man ein besonderes Thema erarbeitet. Wichtig ist, den Erwartungshorizont offen zu äußern und dann auch prüfen, ob dieser sich erfüllt
Hierfür muss man regelmäßig Feedback einfordern: "Wie ist das für Sie gelaufen? Was erwarten Sie von mir?" Hilfreich ist, dass die Menschen wissen, ich habe die Gelegenheit, Feedback zu geben, diese ist dann offen und mit ausreichend Zeit zu gestalten. Das wirkt auch konfliktpräventiv, und vermeidet, dass sich Frustration hochschaukelt
Bei der Deutschen Bank haben Sie eine Traineeausbildung gemacht und waren dort unter anderem Direktorin des Bereichs „Corporate Social Responsibility und Corporate Citizenship“, Geschäftsführerin der Deutschen Bank Stiftung „Hilfe zur Selbsthilfe“ und waren als Mitarbeitervertreterin Mitglied im Aufsichtsrat. Welches Mindset und welche Fähigkeiten waren hilfreich, um diesen Weg zu gehen?
Also zunächst muss man in jeder Aufgabe arbeiten und seine Hausaufgaben richtig machen. Was mir geholfen hat, war, dass ich Umfeldsituationen sehr bewusst wahrnehme, sie aufschreibe und mich in neue Themen einarbeite und einfühle. Dann bin ich unerschrocken. Man kann mich nicht mit großem Gerede beeindrucken, das schaue ich mir eher nüchtern an und bin zurückhaltend. Manche Männer haben eine Machoart, da steht man manchmal davor und denkt, was soll das eigentlich, das hast du doch eigentlich gar nicht nötig. Meine Mutter sagt immer, man muss sich vorstellen, wie vermeintlich bedeutende Menschen morgens unter der Dusche stehen. Diese vorgestellte "Entkleidung" macht es möglich, dass man mit einer gewissen Unbeeindrucktheit an die Dinge herangeht. Das heißt nicht, dass ich nicht mit Respekt an Menschen und Aufgaben herangehe. Ich habe im Jurastudium gelernt, Sachen ordentlich abzuarbeiten, und im Soziologiestudium habe ich gelernt, einen breiteren oder tieferen Blick auf die Sachverhalte zu werfen. Ich habe Empathie für andere Menschen und vertraue auch darauf, dass mir in der richtigen Minute das Richtige einfällt. Und das auch einmal mit Humor. Menschen wollen nicht nur Probleme, sondern auch Lösungen und wollen auch mal lachen. In einer mehrstündigen Videokonferenz mache ich dann gerne einen Witz oder spontane Bemerkung, das lockert dann die Atmosphäre und macht es angenehmer, gerade als Sitzungsleitung.
Von 2004 bis 2019 waren Sie Mitglied und Vorsitzende des Rates für Nachhaltige Entwicklung, der die Bundesregierung in Fragen der Nachhaltigkeit berät. Haben Sie eine nachhaltige Vision für Deutschland vor Augen?
Ich glaube eine nachhaltige Vision für Deutschland muss eine sein, die für die ganze Welt gilt. Deutschland ist keine Insel, wir werden nur mit den Ländern um uns herum und denen des globalen Südens nachhaltig sein können. Konsum, Verbrauch und Wirtschaftswachstum müssen wir vom Ressourceneinsatz entkoppeln und die CO2 Emmissionen möglichst schnell herunterbringen. Nachhaltigkeit betrifft aber nicht nur Umwelt und Wirtschaft. Es geht um Solidarität mit den Schwachen, konkrete Themen sind zum Beispiel gleiche Chancen für alle und nicht kommenden Generationen Lasten aufzubürden. Der stete Blick auf die Schwachen in unserer Gesellschaft oder in der einen Welt hilft Menschen auch, ihr Leben erfolgreich zu gestalten. Das gibt Bodenhaftung und verhindert gesellschaftliche Spaltung.
Haben Sie konkrete Tipps, wie man sich als Berufseinsteiger*in ein Netzwerk aufbauen kann?
Man kann das sicherlich systematisch machen. Ich versuche einfach zu den Menschen, die ich mag, die mir sympathisch sind, den Kontakt zu halten. Was mir allerdings im Laufe der Jahre aufgefallen ist: Frauen sagen Abendveranstaltungen sehr häufig ab, weil sie noch arbeiten oder sich um die Familie kümmern wollen oder müssen. Dabei verpassen sie vielleicht nicht immer, aber doch hin und wieder gute Gelegenheiten für interessante Kontakte. Ich erinnere mich zum Beispiel an ein Alumni-Treffen einer Runde von interessanten Frauen in Führungspositionen aus unterschiedlichen Branchen und Konzernen. Eine der Frauen hatte uns zum Abendessen mit dem Vorstandsvorsitzenden des DAX-Konzerns eingeladen, für den sie arbeitete. Die Frauen selbst waren schon ein guter Grund, sich auf den Abend zu freuen. Trotzdem hat nicht einmal die Hälfte der Runde von 20 Frauen zugesagt. Männer hätten an einem solchen Abend vermutlich andere Prioritäten gesetzt und teilgenommen. Mit zwei hungrigen Kindern zu Hause und einem Stapel Akten auf dem Schreibtisch ist die Entscheidung bestimmt nicht immer einfach. Andererseits: Leichter als bei solchen Terminen lassen sich Netzwerke kaum pflegen.
Im Kontext von Bildung heißt das: Wir brauchen mehr Chancen für Bildungsbenachteiligte, müssen uns noch mehr anstrengen, Menschen in Arbeitsprozesse zu integrieren, damit diese nicht mehr von Transferleistungen leben müssen. Das gilt auch für Menschen, die sich aus Kriegen, Konflikten oder Korruption zu uns flüchten. Wir werden das Problem nicht mit Mauern rund um das Mittelmeer lösen. Wir müssen hierfür Lösungen für die Menschen vor Ort suchen und die Ursachen von Flucht und Migration zu beheben helfen.
Die Berufung in den Rat für Nachhaltige Entwicklung beruhte auf einem Vortrag von mir über nachhaltige Geldanlagen. Nachhaltigkeit mit Wirtschaft zusammen zu denken, das hat mich gereizt. Deutschland hat die Soziale Marktwirtschaft entwickelt, diese zu einer Rahmenordnung für nachhaltiges Wirtschaften fortzuentwickeln, braucht einen langen Atem, aber ist möglich: Zum Beispiel dienen Berichtspflichten dazu, Investor*innen, aber auch das Management über die Nachhaltigkeitsthemen zu sensibilisieren und deren Management auch als Wettbewerbsvorteil zu entwickeln.
Sowohl durch Ihre Tätigkeit bei der Deutschen Bank als auch Ihre zahlreichen Ehrenämter haben Sie bereits an unzähligen Plena teilgenommen. Was bedeutet für Sie gute Diskussions- und Kommunikationskultur? Haben Sie Empfehlungen/Tipps, die Ihnen als Frau besonders geholfen haben?
Ich rede manchmal länger, damit ich eine breitere Perspektive darstellen kann. Ich habe gelernt, mich dabei nicht unterbrechen zu lassen. Es ist hilfreich, nach dem Motto: Lassen sie mich diesen Gedanken noch zu Ende formulieren oder einfach weiterzureden und sich nicht stören lassen. Das habe ich in Diskussionen mit Politiker*innen lernen müssen.
Ich versuche auch eine Aufmerksamkeit für die Integration von Stillen zu leben und frage aktiv nach, wenn ich zum Beispiel eine Sitzung leite, ob sie etwas beitragen wollen. Jede*r hat seinen*ihren eigenen Blick auf die Dinge und es hilft, alle mitzunehmen. Auch einen Seitenaspekt einzubringen, den die Mehrheit nicht für relevant gehalten hat, kann dennoch sehr wichtig werden. Es ist mir ein Anliegen, in einer Runde zu gucken, wo sind die Stillen und diese zu integrieren und zum Mitsprechen zu animieren.
Sie und Ihr Mann haben zwei Töchter. Wie sah Ihre Vereinbarkeitslösung für Familie und Beruf aus?
Meine Töchter sind 28 und demnächst 26 Jahre alt. In der Zeit, als sie klein waren, gab es in unserer Stadt noch keine Ganztagskindergärten. Das Glück meines beruflichen Lebens war eine Kinderfrau, die unsere Kinder über 20 Jahre betreut hat. Ich bin früh ins Büro gegangen, mein Mann hat die Kinder fertig gemacht und ich bin dann früher am Nachmittag nach Hause gekommen und habe mich dann um die Kinder gekümmert, wenn mein Mann noch gearbeitet hat. Abends, wenn die Kinder im Bett waren, habe ich mich wieder an den Schreibtisch gesetzt, das hat manchmal auch geholfen besser vorbereitet gewesen zu sein, die genauere Analyse und bessere Argumente zu haben. Outgesourct haben wir das Putzen, Waschen und Bügeln. Das konnte ich mir leisten, weil ich schon Direktorin war, als wir Kinder bekamen. Am Ende blieb finanziell zwar zunächst nichts übrig, außer quasi das Kostüm für die Arbeit zu bezahlen und die Kinderfrau und Haushaltshilfe. Es war eine Investition in die Zukunft, die sich dann glücklicherweise auch gerechnet hat. Mein Mann und ich haben sehr klare Vorstellungen dazu gemeinsam entwickelt.
Wenn Sie die Möglichkeit hätten, Ihrem früheren Ich einen Rat zu geben, welcher wäre es?
Eine sehr schöne Frage! Vor allem: Sich selbst etwas zuzutrauen. Wenn andere einem etwas zutrauen, dann kann man sich das selbst auch zutrauen. Das war mir zu Beginn meiner Karriere nicht so gegeben. Als ich gefragt wurde, ob ich mir vorstellen könne, Aufsichtsrätin zu werden habe ich mit meinem Mann darüber noch etwas zögernd gesprochen. Er sagte, kein Mann würde zögern, wenn andere ihm das zutrauen. Der Rest wäre Arbeit.
Sie haben berichtet, dass Sie im Laufe Ihrer Karriere immer wieder innegehalten haben und ihre derzeitige Position reevaluiert haben. Wie genau sind Sie dabei vorgegangen und was hat Ihnen noch geholfen, Ihren Weg zu verfolgen und zu planen?
Jährlich, wenn der Bonus kam, habe ich mir meine Erfahrungen, positive und negative und die Zahlenentwicklung auf ein Blatt Papier geschrieben. Dann meine eigenen Ziele für das kommende Jahr beschrieben, was kann, was will ich erreichen. Im Jahresverlauf konnte ich dann Zielvorstellung und Realität abgleichen. Als ich mein erstes Kind bekam, war mein Ziel, einen guten Wiedereinstieg im Job hinzubekommen. Danach wollte ich weitere Schritte in meinem Job machen, dann habe ich mir vorgenommen, wieder etwas anderes zu machen. So ganz ehrlich, nur für mich, hands-on und gar nicht hochtrabend. Wenn mich Kolleg*innen nervten, dann habe ich das als negativen Punkt aufgeschrieben. Es war eine Zielvereinbarung mit mir selbst, nicht nur mit meinem*r Chef*in.
Durch Ihr berufliches und ehrenamtliches Engagement haben Sie mit vielen Menschen Kontakt. Wie pflegen Sie Ihr Netzwerk?
Das war bei mir sehr old fashioned, weil es noch kein LinkedIn oder Instagram gab. Es war mir wichtig, Weihnachtskarten zu schreiben oder zum Geburtstag zu gratulieren. Heute mache ich vieles auch noch immer so. Dann reservierte ich zwei Mittage pro Woche für eine Netzwerkpflege und überlegte mir, wen möchte, muss, will ich wiedersehen und das auch oftmals anlass- und ziellos. Man muss sich auch zutrauen, Kolleg*innen aus anderen hierarchischen Ebenen zu treffen. Das Netzwerk war zunächst im Kosmos der Deutschen Bank zu suchen. In so großen Unternehmen war es mir sehr wichtig, viele Kolleg*innen zu kennen.
Wie können wir die strukturellen Probleme angehen, die nach wie vor dazu beitragen, dass Frauen in Führungspositionen unterrepräsentiert werden?
Das FüPoG I und II sind zentrale Beschlüsse, die gesetzgeberisch diese strukturellen Probleme aufbrechen. Ich bin jedenfalls überzeugt, dass künftig noch mehr Frauen in Führungspositionen arbeiten werden und setze mich persönlich bei jeder sich bietenden Gelegenheit für Frauen ein.
In unserem Vorgespräch haben Sie das Zitat „Das Leben wird nach vorne gelebt, aber erst in der Rückschau verstanden.“ von Søren Kierkegaard erwähnt. Wie verstehen Sie sein Zitat?
Ich glaube, das Entscheidende ist, dass man immer wieder seine inneren Stärken und Schwächen in einen Ausgleich bringt und herausfindet, was macht mir Spaß, wo bin ich gut, wo bringe ich mich ein, und man dabei auch ganz ehrlich mit sich ist. Dann muss man auch mit anderen Menschen darüber sprechen, mit seinen Eltern, Geschwistern, langjährigen Freund*innen, um diese eigenen Erkenntnisse auch breiter abzusichern. Das ist besonders wichtig, wenn es um konkrete Entscheidungen geht: Jede auch berufliche Entscheidung braucht ja auch ein gutes Bauchgefühl.
Welche Juristin hat Sie so inspiriert, dass sie als Vorbild für breaking.through nominiert werden sollte? Wieso?
Dr. Lore Peschel-Gutzeit, wir sind uns im Deutschen Juristinnenbund begegnet. Sie ist eine tolle Frau, der ich auch Ermutigung zu verdanken habe. Eine Ermutigung, meinen Weg zu gehen, nicht nachzulassen und das Zutrauen zu haben, das packe ich schon.
Herzlichen Dank für das Interview!
Frankfurt am Main, 18. Mai 2021. Das Interview führte Jennifer Seyderhelm.
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