Dr. Mina Kianfar im Porträt
„Dass ich heute Deutsche bin, war ein identitätsstiftender historischer Zufall.“
Dr. Mina Kianfar, Partnerin bei Unverzagt Rechtsanwälte, über die Kunst, mit Willensstärke auch hochgesteckte Ziele zu erreichen, die ungeahnten Herausforderungen, die die Mutterschaft mit sich bringt und wie es dazu kam, dass sie überhaupt Deutsche wurde.
Mina, Du bist seit Januar 2019 Partnerin in der angesagten IP-Boutique Unverzagt Rechtsanwälte in Hamburg. War die Partnerschaft ein Ziel, auf das Du hingearbeitet hast oder hat sich das eher so ergeben?
Die Perspektive hat sich 2018 ergeben und ab diesem Zeitpunkt habe ich auch gezielt darauf hingearbeitet und konnte sogar die eigentlich erst für 2020 geplante Partnerschaft schon 2019 erreichen. Viel früher hatte ich die Partnerschaft aber eigentlich nicht vor Augen, sondern ich habe mich mehr von meiner Leidenschaft für die Fälle treiben lassen. Ohnehin hat man als Associate bekanntlich nur begrenzt Einfluss darauf, wer Partner*in wird, denn das kommt sehr auf die Struktur der Kanzlei und die Pläne der bestehenden Partner*innen an.
Wie bist Du denn überhaupt zu Jura gekommen?
Eher zufällig. Ich wollte als Abiturientin die Welt entdecken und erobern (lacht). Zu diesem Zweck wollte ich eigentlich zum Auswärtigen Amt. Über Freunde hatte ich gehört, dass man da vor allem als Juraabsolvent*in gute Chancen hat. Ohne genau zu wissen, worauf ich mich einlasse, habe ich mich also für Jura entschieden. Dann kam es unverhofft so, dass mich Jura seit der ersten Vorlesung (das war Strafrecht!) total fasziniert hat. Es hat mich geradezu mitgerissen und ich musste unbedingt lernen, wie man Fälle löst. Dann war das Auswärtige Amt auch schnell vergessen, weil ich das juristische Handwerkszeug richtig anwenden wollte, und zwar als Anwältin. Denn ich finde, dass man in der Anwaltschaft am meisten bewirken kann. Richter*innen kriegen, jedenfalls im Zivilverfahren, immer nur den Ausschnitt mit, den die Anwaltschaft ihnen vorlegt. Als Anwält*in hingegen hat man die Möglichkeit, Dinge durchzusetzen und das fasziniert mich bis heute.
Bevor Du Anwältin in Hamburg geworden bist, hast Du am Max-Planck-Institut in München gearbeitet und zu einem urheberrechtlichen Thema promoviert. Wie hast Du das Urheberrecht für Dich entdeckt?
Ich habe insgesamt in meinem Leben viel über Personen entdeckt, die mich inspirieren. In diesem Fall war es Prof. Wandtke, der Balletttänzer war und Urheberrechtler ist. Er hielt die Vorlesung Urheberrecht in meinem Schwerpunktbereich an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er hat mich sehr inspiriert mit seiner Fähigkeit, Tanz, Musik, Kunst und Recht zu verknüpfen. In dieser Zeit habe ich auch ein Praktikum bei der damaligen VG Media gemacht und diese Seite des Urheberrechts kennengelernt.
Meine urheberrechtliche Promotion habe ich dann aber nicht bei Prof. Wandtke absolviert, sondern bei Prof. Dreier, dessen technisch geprägte Herangehensweise ans Urheberrecht mir gefallen hat. Ich war zunächst Stipendiatin an einem interdisziplinären Graduiertenkolleg zur „ökonomischen Analyse des Rechts“ am Zentrum für Angewandte Rechtswissenschaften des Karlsruher Instituts für Technologie, gemeinsam mit Ökonom*innen und Informatiker*innen. Die Interdisziplinarität war sehr gewinnbringend und horizonterweiternd. Ich musste meine Dissertation regelmäßig den Kollegiat*innen der anderen Fächer vorstellen, was sehr erdend war. Man merkt dann selbst, ob man es verstanden hat und ob man es auch Fachfremden gut erklären kann, was auch sehr hilfreich ist für die anwaltliche Arbeit. Aber was mir gefehlt hat, war der fachliche Austausch zum Urheberrecht. Deshalb wechselte ich ans Max-Planck-Institut und fand dort die Crème de la Crème des IP vor. Dort konnte man sich gut ununterbrochen über Urheberrecht austauschen – auch nachts im Club – bis ich dann selbst genug davon hatte (lacht). So bekam man auch einen guten Überblick über andere IP-Themen. Das war fachlich überaus gewinnbringend und ich profitierte auch von einem erstklassigen internationalen Netzwerk.
Du hast im Rahmen eines Praktikums bei der VG Media schon früh Berührungen mit dem Recht der Verwertungsgesellschaften gehabt und führst heute spannende Prozesse gegen zahlreiche Verwertungsgesellschaften. Was fasziniert Dich an diesem Themengebiet?
Das Urheberrecht, gerade im Zusammenhang mit den Verwertungsgesellschaften, ist sehr politisch, was das Ganze für mich so spannend macht. Verwertungsgesellschaften hatten lange den Zeitgeist auf ihrer Seite und will man dagegen ankämpfen, ist das sehr herausfordernd. Mir macht es Spaß, dem auf den Grund zu gehen, also das aus meiner Sicht veraltete System zu hinterfragen und damit Schritt für Schritt zu erneuern. Es gibt auf diesem Gebiet viele „alte Männer“, die nicht mit der Zeit gehen, vollkommen selbstgerecht und nicht selbstkritisch sind. Es spornt mich an, gegen sie vor Gericht mit den juristisch besseren Argumenten zu gewinnen. Das führt zu mitunter hartnäckigen Gerichtsverfahren, die mir aber sehr viel Freude bereiten.
Du kommst gebürtig aus dem Iran und bist erst als Vierjährige – eher zufällig – in Berlin gelandet. Magst Du uns kurz schildern, wie es dazu kam?
Mein Vater war und ist politischer Aktivist und wurde daher verfolgt, sodass er sich ins Ausland retten und mit der Familie (zu Fuß!) nach Turkmenistan ging. Wir verbrachten erst ein Jahr in der Sowjetunion und dann hatten wir das unverhoffte Glück, dass die Sowjetunion zu dieser Zeit Visa für die damalige DDR ausstellte. Wir sind dann kurz vor dem Mauerfall in Berlin angekommen. Dass ich heute Deutsche bin, ist also ein identitätsstiftender historischer Zufall (lacht). Ich stelle mir heute oft die Frage, wer ich wohl wäre, wenn meine Eltern damals in Russland geblieben wären. Welche Wertvorstellungen ich hätte, welche Meinung beispielsweise über den Krieg in der Ukraine? Ebenso frage ich mich, wie sich alles entwickelt hätte, wenn meine Eltern den Weg zu Fuß nicht nach Norden, sondern Richtung Osten nach Afghanistan angetreten hätten. Würde ich jetzt vor den Taliban fliehen? Da ich selbst nur „zufällig“ Deutsche und nicht Russin oder Afghanin geworden bin, leuchtet es mir jedenfalls nicht ein, Hilfsbereitschaft davon abhängig zu machen, welche Herkunft Flüchtlinge haben.
Als Du in die Grundschule kamst, konntest Du bereits Deutsch. Trotzdem wurdest Du von den Lehrern und Lehrerinnen nicht unbedingt gefördert. Was für Erfahrungen hast Du hier gemacht?
Ich gehe davon aus, dass meine damaligen Erfahrungen heutzutage nicht mehr so gemacht würden. Damals gab es noch wenig kulturelles Verständnis. So hat mich die Schule zum Beispiel einfach in die „Türkenklasse“ gesteckt – eine Klasse, in der quasi ausschließlich Türk*innen waren, die sich auch nur auf Türkisch unterhalten haben –, ohne zu realisieren, dass ich gar kein Türkisch verstehen konnte. Aber man muss auch bedenken, dass ich in einem Arbeiterviertel aufgewachsen bin und das Bildungsniveau insgesamt recht niedrig war. Es gab viele Arbeitslose und Niedrigstverdiener und somit haben die Lehrer und Lehrerinnen insgesamt von den Kindern wenig erwartet.
Du hast drei Brüder und man merkt, dass Dir das zu einem recht durchsetzungsstarken Charakter verholfen hat. Was hilft Dir noch, Deine Ziele zu erreichen?
Ich bin kein Mensch, dem Türen geöffnet werden oder dem irgendetwas in den Schoß fällt. Das kompensiere ich mit Willensstärke und Durchsetzungskraft. Wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe, dann setze ich das durch. Durch die Türen, die sich mir nicht von selbst öffnen, quetsche ich mich quasi mit Gewalt durch (lacht). Zum Beispiel als ich zum Auswärtigen Amt wollte, da war es mir eigentlich egal, auf welchem Weg ich das schaffe, ich hätte dafür auch eine Ausbildung gemacht. Ich bin insofern sehr pragmatisch und uneitel. Ich setze mir Sachen in den Kopf und will sie dann erreichen. Erfahrungsgemäß funktioniert das überraschenderweise auch meistens.
Gab es im Laufe Deines Lebens Situationen, in denen Du Dich als Frau in irgendeiner Weise herabgesetzt gefühlt hast?
Das Auftreten ist oft deutlich unsachlicher, wenn Männer mit einer (jungen) Frau zu tun haben. Als Adressatin fühlt man sich dann zumindest verunsichert.
Ich hatte mal eine Szene vor Gericht, da habe ich mich wirklich geschämt, auch vor meiner eigenen Mandantschaft, die neben mir saß und somit gemeinsam mit mir angeschrien wurde. Ich wurde vom gegnerischen Anwalt klein gemacht. Er stand einfach schreiend vor mir und hat mir polemischen Schwachsinn an den Kopf geworfen. Man fühlt sich unwillkürlich hilflos. Nach meiner Erfahrung führen sich Frauen so nicht auf, das würde einfach als lächerlich empfunden. Aber auch Männer benehmen sich gegenüber Männern so eher selten. Und das ist natürlich ungerecht, auch, wenn es fraglich ist, ob sie davon im Endeffekt einen Vorteil haben (wir haben in diesem Verfahren gesiegt).
Als ich noch Referendarin war, damals in der Urheberrechtskammer am Landgericht Berlin, ging es in einem Verfahren um Plagiate von Latexanzügen. Einer der Anwälte hat anzügliche Anspielungen gemacht, dass ich die irgendwie gebrauchen könnte – vollkommen unnötig und willkürlich, ich saß ja nur daneben! Auch das war so eine Situation, die männlichen Referendaren vermutlich seltener passiert und in welcher man sich als junge Frau ausgeliefert fühlt, egal wie selbstbewusst man eigentlich ist.
Seit Dezember 2020 bist Du stolze Mutter von Zwillingen. Herzlichen Glückwunsch dazu! Seitdem hat sich Dein Leben sicherlich sehr verändert. Was war für Dich die einschneidendste Veränderung, die das Muttersein mit sich gebracht hat?
Für die erste Zeit hatte ich das Gefühl, ich existiere gar nicht mehr, ich bin nur noch für die Versorgung meiner Kinder da – das ist harte körperliche Arbeit, die natürlich sehr wenig mit dem Menschen zu tun hat, der ich zuvor 36 Jahre lang war. Aber auch darüber hinaus ist das erste Mal Elternwerden insgesamt sehr einschneidend, umso mehr, wenn man mit Kindern wenig Erfahrung hat und dann direkt zwei davon bekommt.
Du bist direkt nach dem Mutterschutz wieder in die Arbeit eingestiegen und hast neben dem Einsatz Deines Partners auch aktive Unterstützung durch Deine Mutter erhalten. Hat das wie geplant funktioniert oder würdest Du im Rückblick etwas anders machen?
Geplant war eigentlich, dass uns statt meiner Mutter eine Nanny unterstützt, aber das hat nicht funktioniert, insofern ist meine Mutter eingesprungen. Es lief insgesamt nichts so, wie wir es uns vor der Geburt vorgestellt hatten. Wir waren schon sehr naiv.
Ich würde rückblickend im Vorfeld definitiv mehr Fragen stellen, anstatt mich an Unmöglichem zu messen und zu glauben, ich könnte alles schaffen. Ich würde konkret Menschen kontaktieren und sie alles Erdenkliche fragen. Ich habe damals zwar mit Menschen geredet, aber kaum etwas gefragt, wohl auch, weil ich Zuversicht ausstrahlen wollte. Ich hatte wohl Angst, dass mich das demotiviert, wenn mir Andere sagen, dass meine Erwartung an die eigene Leistungsfähigkeit völlig unrealistisch ist. Man kennt das ja, wenn man eine ehrgeizige Frau ist, die bisher immer alles gut geschafft hat. Da heißt es „in Frankreich kriegen das ja auch alle hin“ und „in Amerika gibt’s gar keine Elternzeit“, also was soll man sich da so haben? Ich hatte insofern völlig falsche Erwartungen an mich selbst, die sich vielleicht durch ehrliche Gespräche mit anderen Frauen geändert hätten. Ich dachte so: „Easy“ –, ich habe das Geld für eine Nanny, ich habe einen Mann, der sich für die Kinder Zeit nehmen will, also was soll mir passieren?“ Im Nachhinein muss ich sagen, das war ziemlich dumm. Ich habe die Bedürfnisse meiner Kinder und auch meine eigenen vollkommen falsch eingeschätzt. Denn trotz eines Vaters, der 14 Monate Elternzeit gemacht hat, war es immer noch verdammt hart, mit Zwillingen zurechtzukommen und als Familie zusammenzuwachsen.
Im Nachhinein würde ich mir wünschen, dass ich weniger naiv und vielleicht auch weniger arrogant an die Sache herangegangen wäre. Und ich hätte mir mehr Zeit für die Kennenlernphase genommen und zwar im Kreis der Kleinfamilie, also nur mein Freund, ich und die Kinder. Denn diese Phase am Anfang ist so wichtig, das haben wir vollkommen unterschätzt. Ich habe mich hier unnötig unter Druck setzen lassen, von allen und allen voran mir selbst. Stattdessen hätte ich viel mehr den Augenblick genießen sollen.
Das klingt als erlebtest Du die Elternschaft als unerwartet herausfordernd. Worauf bist Du heute stolzer: Auf Deine bisherige erfolgreiche Karriere oder auf Deine Leistung, Mutter von Zwillingen geworden zu sein?
Als stolze Mutter würde ich mich – zumindest aktuell – nicht bezeichnen, denn mit der Geburt ist es ja nicht zu Ende. Die Phase des Elternwerdens ist so ein großes Learning für Mutter und Vater, auch weil man so sehr an seine eigene Kindheit zurückerinnert wird. Es schwingt immer die Furcht mit, etwas falsch zu machen, das den Kindern in ihrer Entwicklung schadet. In meinem Fall zum Beispiel die Befürchtung, dass ich zu wenig für die Kinder da bin. Ich habe früher immer gedacht der Spruch „ein Kind braucht seine Mutter“ ist pure Unterdrückung von Frauen und hat nichts mit der Realität zu tun. Aber wir haben es ausprobiert: Bei uns hat im ersten Jahr der Papa mehr Zeit mit den Kindern verbracht als ich, aber man kann bei meinen Kindern nicht leugnen, dass sie mich trotzdem ein wenig mehr brauchen als den Vater. Vor der Geburt meiner Kinder war ich ein Stück weit auch stolz darauf, dass ich es schaffe, die traditionelle Rollenverteilung zu durchbrechen. Im Nachhinein hat sich auch dieser Gedanke für mich als wenig zielführend erwiesen. Es fühlt sich überhaupt nicht toll an, sich so früh von den Kindern loszueisen. Das war für uns alle sehr belastend.
Anders als das reine Frausein, bringt das Muttersein in der Berufswelt meistens doch mehr Nachteile mit sich, als sie Männer oder auch Väter erfahren. Du hast erzählt, Dein Freund ist in der Zeit, in der er Elternzeit genommen hat, sogar befördert worden. Du selbst musstest – trotz denkbar kurzer Auszeit – hart kämpfen, um der Außenwelt zu beweisen, dass Du auch nach der Geburt Deiner Kinder noch die gleiche Leistung erbringst. Woran liegt das aus Deiner Sicht und was müsste sich hier ändern, um mehr Gerechtigkeit herzustellen?
Schwer zu sagen, woran das liegt. Ich glaube, es liegt daran, dass es so wenig „normal“ ist, dass Frauen mehr arbeiten als ihre Männer, also Hauptverdienerinnen sind. In der Gesellschaft wird genau das Umgekehrte erwartet und somit werden auch alle Weichen für diese „Norm“ gestellt. Die Frau „darf“ dann dieses eine Jahr „frei“ machen, wenn sie Kinder bekommt. Wenn sie aber von dieser vorgeschriebenen Norm abweicht, wird das als falsch empfunden. Das ist natürlich überhaupt nicht damit in Einklang zu bringen, dass die betroffenen Familien und ihre Bedürfnisse sehr unterschiedlich sind. Keiner weiß vor der Geburt des ersten Kindes, was das mit den Eltern macht und vor allem: was das Kind bzw. bei Zwillingen, die Kinder, einfordern. Somit gibt es so etwas wie die „Macht des Faktischen“, die ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten mit sich bringt und die sind bei jeder Familie anders. Daher glaube ich, liegt der Schlüssel in viel größerer Flexibilität am Arbeitsmarkt. Aber nicht nur dort. Denn man kriegt ja nicht nur von Arbeitgeber*innen das Gefühl, etwas falsch zu machen, sondern auch von anderen Frauen, den eigenen Müttern, ungefragten Passant*innen auf der Straße usw. Man müsste insgesamt viel flexibler und weniger schematisch denken und eine Bandbreite an Möglichkeiten bieten, die es auch verhindern, dass man sich als Frau durch Extrembeispiele so unter Druck gesetzt fühlt.
Man sollte aber auch von den Arbeitgeber*innen mehr Menschlichkeit erwarten dürfen. Kluge Arbeitgeber*innen sollten nicht nur kurzfristig denken, sondern auch die Elternsichtweise einnehmen und Empathie zeigen. Es muss ein Umdenken dahin geben, dass Kinderkriegen nicht mehr nur als Störung empfunden wird. Wieso auch? Mittlerweile wird Sabbatical für eine Radreise als normal, geradezu „cool“, jedenfalls aber horizonterweiternd empfunden, aber Kinderkriegen ist immer noch ein Problem. Dabei ist es sicherlich mindestens ebenso horizonterweiternd… Man sollte Kinderkriegen als positiv empfinden und insgesamt mehr hin zu einem ganzheitlichen Ansatz einer gesunden Work-Life-Balance finden. Der Maßstab darf jedenfalls nicht sein, dass 13 Stunden arbeiten am Tag gut und wünschenswert ist, denn damit hat langfristig gesehen keiner gewonnen.
Was würdest Du Juristinnen raten, die Karriere und Mutterschaft gleichermaßen anstreben?
Ich würde jede*n darin bestärken, sowohl ein erfülltes Privatleben – ob nun Mutterschaft oder nicht – und ein erfülltes Berufsleben anzustreben, weil nur dann ein gesundes Leben aus meiner Sicht möglich ist. Ich merke, dass es einen Generationswandel dahingehend gegeben hat, dass deutlich jüngere Frauen heutzutage viel realistischer und offener denken und nicht mehr nur die Karriere sehen, sondern auch das Privatleben sehr wertschätzen. Diesen Leuten würde ich absolut Recht geben. Ich glaube, dass das auch mittlerweile in den Kanzleien ankommt, gerade in größeren Kanzleien. Insofern denke ich, dass es hoffentlich bald kein Problem mehr sein wird, Kinder und Karriere zu vereinbaren. Bis dahin würde ich sagen, lasst euch nicht verbiegen, lasst euch nicht einreden, dass man möglichst viele Stunden vor dem Rechner sitzen muss, denn das ist nicht richtig. Man sollte kein schlechtes Gewissen haben, wenn man Urlaub hat, sein Kind sehen oder Freund*innen treffen will. Sonst kann man nichts mehr genießen.
Wir haben viel darüber gesprochen, dass Frauen allerlei Druck ausgesetzt sind, wenn es um Mutterschaft und Karriere geht. Ist dieses sich unter Druck setzen und schlechtes Gewissen haben ein typisch weibliches Problem?
Fakt ist, wir werden unter Druck gesetzt, und zwar sowohl von Männern als auch von Frauen. Von uns wird mehr erwartet und zwar auf allen Ebenen. Wir sind dafür aber auch sehr aufnahmebereit. Wenn gerade niemand Druck ausübt, dann machen wir ihn uns selbst. Ich kann natürlich nur für mich sprechen, aber mir persönlich fällt es oft schwer, Grenzen zu ziehen, also aufzuzeigen, wo meine persönliche Grenze ist, woran ich mich nicht messen will.
Hier ein banales Beispiel aus meinem Alltag: Im Zuge meiner fortschreitenden Schwangerschaft habe ich meinen Fitnessstudiovertrag gekündigt. Als Antwort schrieb mir der (männliche) Betreiber, andere Frauen würden bis zum achten Monat trainieren. Ich hätte ihm klar meine Meinung zu diesem unqualifizierten Kommentar sagen und sein Statement dann vergessen können. Habe ich aber nicht und stattdessen habe ich mich mit der Kritik erstmal auseinandergesetzt und fühlte mich zunächst ein bisschen schlecht, dass ich nicht vorhatte, ein strafferes Sportprogramm durchzuziehen. Ich könnte mir vorstellen, dass es Männern oft leichter fällt, für sich selbst schnell Grenzen zu setzen und so etwas gar nicht ernst zu nehmen, anstatt immer nur allen denkbaren Erwartungen gerecht zu werden oder sie sogar zu übertreffen.
Welche Juristin hat Dich so inspiriert, dass sie als Vorbild für breaking.through nominiert werden sollte? Wieso?
Jeanette Dietrich von der Rechtsabteilung von Netflix. Sie ist eine wundervolle Frau und strahlt eine Gelassenheit aus, die beeindruckend ist. Sie ist auch fachlich wahnsinnig kompetent, auf der Welt gibt es sicherlich nur eine Handvoll, die ihr das Wasser reichen können. Und dabei ist sie so offen und sympathisch. Ein absolutes Vorbild.
Vielen Dank für das spannende Interview!
Celle / Hamburg, 15. Februar 2022. Das Online-Interview führte Dr. Graziana Kastl-Riemann.
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