Oksana Karel, LL.M. im Porträt
„In der Ukraine arbeiten Anwältinnen regelmäßig nicht Teilzeit.“
Oksana Karel, LL.M., Senior Associate bei Hogan Lovells im Bereich International Arbitration, über die Unterschiede zwischen der deutschen und der ukrainischen Anwaltswelt, die Arbeitssuche als ausländische Anwältin nach der Flucht aus der Ukraine und warum im Bereich International Arbitration zwischenmenschliche, interkulturelle Eigenschaften gefragt sind.
Oksana, Du bist seit über zehn Jahren Rechtsanwältin im Bereich International Arbitration. Was macht Dir an Deinem Beruf besonders Freude?
Das ist eine sehr gute Frage! Auf jeden Fall das internationale Umfeld und der interkulturelle Austausch. Ich arbeite gerne in und mit Fremdsprachen. Spannend finde ich die Vielfalt der Themen und die unterschiedlichen Rechtssysteme. In diesem Bereich trifft man die unterschiedlichsten Menschen mit den verschiedensten Hintergründen. Das ist unglaublich beeindruckend und man lernt sehr interessante Menschen kennen.
Du hast zunächst in Deiner Heimat der Ukraine an der Kyiw National Linguistic University Jura studiert, bevor Du Deinen LL.M. an der Universität Heidelberg abgelegt hast. Warum hast Du Dich für Deutschland als Studienort entschieden?
Das hatte zwei Gründe: Das ukrainische Zivilrecht hat viel vom deutschen Zivilrecht übernommen, und Zivilrecht fand ich schon immer spannend. Ich wollte einmal die deutsche Perspektive einnehmen. Neben meinem Studium in Kyiw habe ich zusätzlich die Schule des Deutschen Rechts an der Kyiw-Mohyla Akademie absolviert. Danach wurde mir vorgeschlagen, mich um ein DAAD-Stipendium für ein Master-Studium an der Universität Heidelberg zu bewerben. Dieses Stipendium habe ich dann auch erhalten.
Zu Beginn war das LL.M-Studium in Deutschland sehr anspruchsvoll, vor allem wegen der Rechtssprache. In den ersten paar Wochen habe ich kaum etwas verstanden, ich war fast so weit, alles abzubrechen und wieder nach Hause zu fliegen. Die Klausurenstruktur habe ich am Anfang nicht verstanden, sie ist völlig anders als in der Ukraine. Wir hatten alle Vorlesungen mit den Deutschen gemeinsam, also keine separaten Kurse für die LL.M.-Studierenden. Trotz der Schwierigkeiten habe ich mich zusammengerissen und dann ging es deutlich besser und am Ende habe ich es geschafft.
Wie kam es zu der Spezialisierung im International Arbitration?
Das war reiner Zufall. An meiner Universität in Kyiw gab es keinen Schwerpunkt im Bereich International Arbitration. Als ich mein LL.M.-Studium in Heidelberg begann, musste ich mich für ein Thema für meine Masterarbeit entscheiden. Der damalige Partner von Arzinger, der ukrainischen Anwaltskanzlei, bei der ich vor meinem Studium in Deutschland meine Karriere begonnen hatte, und der heute Richter am Obersten Gerichtshof der Ukraine ist, hat mir damals geraten, ein Thema aus dem Bereich der Schiedsgerichtsbarkeit zu wählen. Mein Thema war dann „Schiedsvereinbarung in Mehrparteienkonstellationen“. Nach meinem Studium in Deutschland bin ich dann in die Ukraine zurückgekehrt und bei Arzinger als Junior Associate eingestiegen. Seitdem habe ich stets internationale Schiedsverfahren betreut.
Du hast fast zehn Jahre bei Arzinger in der Ukraine gearbeitet, hast mehrere Auszeichnungen, u.a. als Next Generation Lawyer for Dispute Resolution, erhalten und zuletzt den Posten des Counsels in einer Kanzlei in der Ukraine bekleidet. Was würdest Du als Dein Erfolgsrezept bezeichnen?
Ich habe hart und viel gearbeitet. Ich bin proaktiv auf Leute zugegangen, habe neue Projekte angestoßen und Ideen eingebracht. Zudem macht mir die Arbeit Spaß. Diese drei Sachen haben wahrscheinlich zum Erfolg beigetragen.
Mit Beginn der groß angelegten Invasion Russlands in die Ukraine im Februar 2022 bist Du nach Polen geflohen und arbeitest seit Mai 2022 als Senior Associate im International Arbitration Team von Hogan Lovells in München aus Warschau. Wie hast Du es gemeistert, einen neuen Job in einem fremden Land zu finden?
Als ich nach Polen gekommen bin – damals mit meinen Kindern, mit meiner Tante und meiner Schwiegermutter – habe ich ziemlich schnell gewusst, dass ich eine neue Arbeit suchen muss. Es war mir klar, dass ich in der naheliegenden Zukunft nicht in die Ukraine zurückkehren kann. Ich habe damals schon viele Anrufe von meinen Anwaltskolleg:innen aus der ganzen Welt bekommen, die vor allem Unterstützung angeboten haben. Ich war auch im Kontakt mit dem International Arbitration-Team von Hogan Lovells und habe ihnen dann meine Bewerbungsunterlagen geschickt. So wurde ich genommen.
Da ich schon vor dem Beginn der groß angelegten Invasion Russlands in die Ukraine immer im internationalen Bereich gearbeitet habe, d.h. in der Investitions- und Handelsschiedsgerichtsbarkeit und im Bereich International Litigation, war dieser Schritt und die Arbeitssuche im Ausland für mich nicht so schwierig, wie es vielleicht für andere war, die nur im nationalen Recht tätig sind.
Welche Unterschiede siehst Du zwischen der deutschen und ukrainischen Anwaltswelt?
Im Jurastudium selbst gibt es große Unterschiede. Das Studium ist ganz anders aufgebaut. In Deutschland ist das Studium auf die spätere Tätigkeit als Richter oder Richterin ausgerichtet. In der Ukraine wird das alte sowjetische System nach und nach abgeschafft und es werden Bachelor- und Masterstudiengänge angeboten. Der akademische Grad Bakalavr / Bachelor wird nach erfolgreichem Abschluss eines vierjährigen Studiums verliehen. Auf den ersten akademischen Grad (Bakalavr) kann ein ein- bis zweijähriges Masterstudium aufgesetzt werden. Für die Ausübung des Richteramtes sind mindestens fünf Jahre Berufserfahrung nach dem Studium erforderlich.
Die deutsche Juristenwelt empfinde ich als sehr männlich. Ich war zum Beispiel völlig verblüfft, als ich das erste Mal in Deutschland eine Veranstaltung besuchte und als junge ukrainische Frau hauptsächlich von Männern umgeben war. In der Ukraine ist das nicht so.
Was die Arbeitsatmosphäre und die Arbeitszeiten angeht, unterscheiden sich die Länder gar nicht so sehr. Man arbeitet immer im Team und alle arbeiten viel und hart. Der einzige Unterschied ist meiner Erfahrung nach, dass wir uns in der Ukraine nicht die Frage stellen, ob man Teilzeit arbeiten kann und wer die Führungsrolle im Unternehmen übernehmen soll. Es ist normal, dass die ukrainische Frau Vollzeit als Anwältin arbeitet und die Führungsrolle übernimmt. Teilzeit ist die absolute Ausnahme, das gibt der Markt gar nicht her.
Wie fühlt es sich an, als geflüchtete Ukrainerin in einem deutschen Team zu arbeiten? Hattest Du je den Eindruck, anders behandelt zu werden als Deine männlichen und/oder deutschen Kolleg:innen?
Als geflüchtete Ukrainerin ist es nicht einfach zu arbeiten, weil meine Gedanken immer in der Ukraine sind. Jeden Tag verfolge ich die Nachrichten und sehe die Bilder des Krieges. Mein Tag beginnt nicht mit einer Tasse Kaffee, sondern mit den Nachrichten aus meinem Land und von meiner Familie, die in der Ukraine geblieben ist. Für mich ist es sehr wichtig, zu arbeiten. Die Arbeit ist also ein Weg, den ich für mich gefunden habe, um mich von diesem „Kriegsalltag“ abzulenken.
Ich hatte nie das Gefühl, vom Team anders behandelt zu werden. Ich wurde immer unterstützt.
Du bist Mutter von 3-jährigen Zwillingsmädchen, die mit Dir in Polen leben. Dein Mann lebt weiterhin in der Ukraine. Wie meistert Du den Spagat zwischen arbeitsintensivem Job in einer Großkanzlei und Deinen Pflichten als alleinerziehende Mutter?
Der Begriff „alleinerziehend“ passt hier nicht. Mein Mann ist in der Ukraine, weil er wegen des Ausreiseverbots für Männer bis zur Aufhebung des Kriegsrechts nicht ausreisen darf. Aber er gehört zu unserer Familie, er macht sehr viel. Wir telefonieren mehrmals am Tag per Video, so dass die Zwillinge auch mit ihrem Vater sprechen und ihn sehen können. Das macht unser Leben einfacher. Ich versuche alles zu tun, damit wir etwas zusammen unternehmen können. Wenn ich Urlaub habe, fahre ich nicht nach Mallorca oder Miami, sondern immer zu meiner Familie in die Ukraine.
Der Job ist natürlich sehr arbeitsintensiv, vor allem in einer Großkanzlei. Meine Tante ist mit mir in Polen geblieben und kümmert sich um die Kinder, wenn ich arbeite. Ich habe also genügend Unterstützung.
Seit gut zwei Jahren herrscht nun die groß angelegte Invasion Russlands in die Ukraine. Hast Du vor, in der nächsten Zeit, in die Ukraine zurückzukehren? Wenn ja, warum und unter welchen Umständen?
Ich denke ständig daran, zurückzukehren, einfach weil ich möchte, dass meine Familie zusammen ist. Aber ich weiß noch nicht, ob ich in absehbarer Zeit zurückkehren werde. Die Situation in der Ukraine ändert sich ständig, manchmal hat man die Hoffnung, dass sich die Sicherheitslage zumindest in Kyiw verbessert. Manchmal werden diese Hoffnungen wieder zunichtegemacht. Die Situation ist sehr schwierig. Deshalb weiß ich nicht, ob wir in absehbarer Zeit zurückkehren werden. Es fällt mir daher schwer, diese Frage zu beantworten.
Gab es jemals Momente des Zweifels oder des (gefühlten) Scheiterns für Dich, sei es in Deiner Karriere oder in Deinem Leben allgemein? Wie hast Du sie bewältigt?
Ja, wie jeder Mensch hatte ich diese Momente auch. Bei mir war das tatsächlich, als ich erfahren habe, dass ich mit Zwillingen schwanger war (lacht). Ich wusste nicht, wie ich den Arbeitsalltag mit zwei gleichalten Babys meistern sollte, wie ich das neben der Arbeit schaffen soll. Für mich war es damals unvorstellbar, wie mein weiteres Leben verlaufen soll. Es war eine Unsicherheit, mit der ich nicht umgehen konnte.
Zudem war die gesamte Schwangerschaft sehr schwierig. Ich hatte – und die Kinder dann natürlich auch – Covid, das war eine schwere Zeit, die wir gemeinsam überstanden haben.
In der Zeit der Flucht war es dagegen ganz anders. Ich hatte einfach keine andere Wahl. Ich wusste, dass ich es schaffen musste, vor allem für meine Kinder, weil ich für sie alleine in diesem Moment Verantwortung getragen habe und weiterhin trage. Zudem hatte ich keine Zweifel, dass ich mich in Polen, welches meiner Heimat – kulturell und auch sprachlich– so ähnlich ist, zurechtfinden werden könnte. Zudem gab es auch so viel Unterstützung. Ich hatte natürlich auch Zweifel, insbesondere, weil meine Familie – neben meinem Mann, auch meine Mutter – zurückgeblieben ist, aber ich wusste, dass ich es schaffe. Wichtig war, dass die Kinder in Sicherheit sind.
Du bist Mitglied in zahlreichen Netzwerk-Communities, u.a. der DIS40, ArbitralWomen und der Young International Arbitration Group. Außerdem bist Du Ambassador der VIAC für die Ukraine. Welche Bedeutung hat Netzwerken für Dich? Wie netzwerkt man richtig?
Netzwerken finde ich sehr wichtig und das macht mir Spaß. Ich mag es, Menschen aus verschiedenen Bereichen zuzuhören und mit ihnen über unterschiedliche Themen zu sprechen. Jeder hat eine andere Denkweise und ich finde es wichtig, die anderen Denkweisen zu verstehen. Das gilt sowohl für Kolleg:innen aus anderen Ländern als auch für Mandant:innen oder Schiedsrichter:innen. Jeder ist anders und es ist wichtig, sie zu verstehen, um ihre Positionen richtig einordnen zu können.
Wie man es richtig macht, da hat wohl jeder seinen eigenen Weg. Wichtig ist, dass man Kontakte hält und pflegt, nicht nur „Kontakte sammelt“. Man kann zum Beispiel zu Veranstaltungen gehen, mit jemandem zusammen einen Artikel schreiben oder bei der Organisation einer Veranstaltung mithelfen. Es gibt auch verschiedene Plattformen mit unterschiedlichen Schwerpunkten, z.B. nur für Frauen in der Schiedsgerichtsbarkeit (z.B. ArbitralWomen). Persönliche Treffen finde ich grundsätzlich am effektivsten.
Was würdest Du jungen Juristinnen raten, die noch am Anfang ihrer Karriere stehen?
Ich kann drei Dinge nennen: Erstens sollte man am Anfang der Karriere, am besten schon während des Studiums, viel ausprobieren. Einfach in verschiedene Rechtsbereiche reinschnuppern, sei es Internationale Schiedsgerichtsbarkeit oder Finanzierungsrecht oder M&A.
Zweitens sollte man sich nie entmutigen lassen, wenn es mal nicht so läuft, wie erwartet. Es gibt Herausforderungen, gute und schlechte Zeiten, im persönlichen, als auch im beruflichen Bereich. Diese Hürden kann jeder meistern.
Zu guter Letzt würde ich jedem raten, immer proaktiv zu handeln. Das kann im Kleinen sein, z.B. den Chef um Feedback bitten, um aus Fehlern zu lernen – oder im Großen, z.B. Vorschläge für das Business Development oder die Marketingaktivitäten machen oder sich aktiv an der Vorbereitung von Veranstaltungen beteiligen.
Welche Juristin hat Dich so inspiriert, dass sie als Vorbild für breaking.through nominiert werden sollte? Wieso?
Ich möchte hier zwei Juristinnen nennen: Ruth Ginsberg und Oleksandra Matviichuk.
Der Einsatz von Ruth Ginsberg für die Rechte der Frauen ist bekannt und war einfach beeindruckend.
Oleksandra Matviichuk ist eine ukrainische Menschenrechtsaktivistin, die 2022 mit dem Friedensnobelpreis geehrt wurde. Das Time Magazine zählte sie 2023 zu den einflussreichsten Menschen der Welt. Sie sammelt unermüdlich Beweise für Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine. Das ist eine sehr mühsame, aber unglaublich notwendige Arbeit. Ich empfehle auch, sich den TED Talk „The Ordinary People Doing Extraordinary Things in Ukraine“ anzuschauen, den sie im Oktober 2023 gehalten hat.
Vielen Dank für das spannende Interview!
Miami/Warschau, 23. Februar 2024. Das Interview führe Mara Alin Brinker.
Spannende Porträts, die Dich ebenfalls interessieren könnten:
Antje Klamt, Richterin am Kammergericht, über ihre Karriere in der Berliner Justiz und die Vereinbarkeit dieses Wegs mit vier Kindern. Weiterlesen
Dr. Christiane Mühe, MJur (Oxford), Notarin und Mitgründerin von FM Notare, über die Notarprüfung, den Wechsel von der Tätigkeit als Rechtsanwältin zur Notarin nach über zehn Berufsjahren und zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Weiterlesen