Sahar Azizi im Porträt
„Frauen sollten beim Aufbau des Landes mithelfen dürfen.“
Sahar Azizi, Rechtsanwältin und Menschenrechtsaktivistin, über Ihre Tätigkeit im Asylrecht, ihre Motivation für ehrenamtliche Arbeit und die aktuelle Situation von Frauen in Afghanistan.
Sie sind als selbstständige Rechtsanwältin in München tätig. Warum haben Sie sich für diesen Beruf entschieden?
Die Tätigkeit als Anwältin ist sehr spannend und facettenreich. Ich wusste bereits zu Beginn des Jurastudiums, dass ich meine eigene Chefin werde. Ich wollte mir beruflich die Freiheit nehmen, welche Fälle ich vertreten möchte und welche nicht. Diesen Schritt habe ich dann auch unmittelbar nach meiner Zulassung als Anwältin gewagt und bereue es bis heute nicht.
Sie sind schwerpunktmäßig im Asylrecht tätig. Was motiviert Sie, in diesem Bereich zu arbeiten?
Jeder Einzelfall bietet die Möglichkeit, politische und rechtliche Situation in dem jeweiligen Fluchtland besser zu verstehen. Außerdem kann das Asylverfahren wegweisend nicht nur für den Lebensweg des Schutzsuchenden sein, sondern betrifft in der Regel die gesamte Familie. So zum Beispiel bei Verfahren zum Zwecke der Familienzusammenführen (Elternnachzug oder Kindernachzug). Der Idealfall ist für mich, wenn ich den Schutzsuchenden bzw. die Schutzsuchende vom Asylantrag bis zum Einbürgerungsantrag begleiten darf.
Neben Ihrer Selbständigkeit sind Sie auch als Syndikusrechtsanwältin beschäftigt. Wie verbinden Sie beide Tätigkeiten?
Die Tätigkeit als Syndikusrechtsanwältin übe ich in Teilzeit aus. So habe ich die Möglichkeit, Einblick in das Gebiet Arbeitsrecht zu bekommen. Ich absolviere nämlich den Fachanwaltslehrgang für Arbeitsrecht.
Sie sind auch in der ehrenamtlichen Rechtsberatung tätig. Können Sie diese Tätigkeit kurz beschreiben?
Die Rechtshilfe München e. V. bietet seit über zwanzig Jahren kostenlose Beratungen in Asyl- und Aufenthaltsfragen an. Die Beratung erfolgt durch mehrere Rechtsanwält:innen und dauert in der Regel fünfzehn Minuten. Das Konzept ähnelt dem einer „law clinic“. Die Rechtssuchenden erhalten eine kurze rechtliche Einschätzung ihres Falles und werden sodann weitervermittelt.
Was hat Sie ursprünglich motiviert, sich ehrenamtlich für Asylsuchende zu engagieren?
Das hat viel mit meiner eigenen Lebensgeschichte zu tun. Ich bin vor mehreren Jahren selbst als Schutzsuchende in die Bundesrepublik eingereist. Die Hilfsbereitschaft, die ich vor allem von den ehrenamtlichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen erfahren durfte, war überwältigend. Sie haben mich in jedem Lebensbereich unterstützt. Mit einigen stehe ich noch immer in Kontakt. Diese Erfahrung hat mich sehr geprägt. Ich gebe bloß die Unterstützung weiter, die ich damals erhalten habe.
Welche Hürden begegnen Ihnen in Ihrer Arbeit mit Asylsuchenden?
Die größte Hürde ist definitiv die Verfahrensdauer in Asylangelegenheiten. So kann das Asylverfahren vom ersten Asylantrag bis zur endgültigen Entscheidung bis zu vier Jahren dauern. Für die Schutzsuchenden – die teilweise ihre Familien zurückgelassen haben – ist diese Situation besonders schwer. Während dieser Zeit zeichnet sich eine Perspektivlosigkeit ab. Das Verfahren zu beschleunigen ist aus anwaltlicher Sicht beinahe unmöglich geworden. Zwar besteht die Möglichkeit, eine Untätigkeitsklage zu erheben, diese dauert aber ihrerseits zwei bis drei Jahre, sodass diese Klagemöglichkeit hier obsolet ist bzw. aus anwaltlicher Sicht keine besondere Bedeutung hat. Damit der Rechtsschutz hier wieder greift, brauchen wir dringend personell besser aufgestellte Behörden und Gerichte.
Was muss sich hier gesellschaftlich ändern?
Das freiwillige Engagement sollte in allen Bereichen gestärkt werden. Für viele scheitert die Vereinbarkeit von Beruf und Ehrenamt aus zeitlich Gründen. In der Arbeitswelt wäre z. B. die Vier-Tage-Woche als ernsthafte Option in Betracht zu ziehen. Vor allem in der Geflüchtetenarbeit oder Jugendbetreuung können Ehrenamtliche gleich zu Beginn anknüpfen und zu einer gelungenen Integration beitragen.
Sie haben selbst afghanische Wurzeln und aktuell noch Kontakt zu Menschen vor Ort. Wie ist die Situation aktuell für Frauen im Allgemeinen?
Ja, ich habe noch einige Familienangehörige in Kabul. Die Frauen haben sich inzwischen angepasst. Einige sind auch schon wieder im Berufsleben angekommen. Allerdings ist der Zugang nicht zu allen Berufen eröffnet. So muss z.B. eine Informatikerin sich damit abfinden, als Grundschullehrerin zu arbeiten. Die Freiheit, einen bestimmten Beruf zu wählen, ist Frauen somit vollständig entzogen worden.
Wie hat sich die Situation für Juristinnen in Afghanistan durch die Machtübernahme der Taliban geändert?
Nach meinem Kenntnisstand können Juristinnen ihren Beruf überhaupt nicht ausüben. Ich werde bis heute von Rechtsanwältinnen und Richterinnen angeschrieben, die sich derzeit in Kabul versteckt halten und Schutz im Ausland suchen. Das deutsche Rechtssystem bietet für diese Fälle leider nicht hinreichend Schutz. Zum einen kann der Asylantrag nicht aus dem Ausland gestellt werden, zum anderen ist der Antrag nur begründet, wenn eine konkrete Gefahr für Leben und Gesundheit besteht. Da sich die Frauen aber versteckt halten, besteht – wenn überhaupt – eine abstrakte Gefahr. Das reicht in der Regel nicht aus.
Was wünschen Sie sich für Afghanistan?
Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Und zwar auf allen Ebenen. Frauen sollten vor allem beim Aufbau des Landes mitwirken dürfen. Sie gehören in alle Posten, in denen Entscheidungen getroffen werden. Bedenkt man, dass die Hälfte der Bevölkerung in Afghanistan weiblich ist, so erscheint eine gelungene Entwicklung, ohne deren Beteiligung utopisch.
Welche Juristin hat Sie so inspiriert, dass sie als Vorbild für breaking.through nominiert werden sollte? Wieso?
Sie haben bereits einige inspirierende Juristinnen in ihrer Porträtsammlung. Spontan fällt mir zwar keine Juristin ein; dennoch möchte ich die Gelegenheit nutzen, um Sumaya Farhat-Naser (Schriftstellerin und Menschenrechtlerin) und Katrin Eigendorf (Journalistin) als persönliche Inspiration zu nennen.
Vielen Dank für das spannende Interview!
München/ Berlin, 3. März 2024. Sahar Azizi hat die Fragen schriftlich beantwortet. Die Fragen stellte Anna Isfort.
Spannende Porträts, die Dich ebenfalls interessieren könnten:
Oksana Karel, LL.M., Senior Associate bei Hogan Lovells im Bereich International Arbitration, über die Unterschiede zwischen der deutschen und der ukrainischen Anwaltswelt, die Arbeitssuche als ausländische Anwältin nach der Flucht aus der Ukraine und warum im Bereich International Arbitration zwischenmenschliche, interkulturelle Eigenschaften gefragt sind. Weiterlesen
Antje Klamt, Richterin am Kammergericht, über ihre Karriere in der Berliner Justiz und die Vereinbarkeit dieses Wegs mit vier Kindern. Weiterlesen